12 - Wer die Wahrheit sucht
auf der Welt sah er seit langem die Unfähigkeit des Menschen, die Sinnlosigkeit aggressiven Handelns anzuerkennen. Invasion und Unterwerfung zogen Unterdrückung und Hass nach sich. Und daraus wiederum entsprang Gewalt in allen ihren Ausformungen. Das Gute aber erwuchs nicht daraus. Frank wusste das und glaubte fest daran. Er war ein Missionar, der versuchte, seine kleine Welt zu dem Wissen zu bekehren, das hochzuhalten man ihn gelehrt hatte, und die Sammlung von Relikten aus der Besatzungszeit, die er im Lauf der Jahre zusammengetragen hatte, sollte dazu dienen, diese Erkenntnis zu verbreiten. Die Objekte sollten für sich selbst sprechen. Die Menschen sollten sie sehen. Und niemals vergessen.
Er hatte daher, wie vor ihm die Deutschen, nichts vernichtet und einen so riesigen Bestand an Objekten angesammelt, dass er schon lange den Überblick verloren hatte. Alles, was im Entferntesten mit dem Krieg oder der Besatzung zu tun hatte, hatte er haben müssen.
Er wusste nicht, was seine Sammlung im Einzelnen umfasste. Lange hatte er von den Dingen immer nur in allgemeinen Begriffen gedacht: Feuerwaffen, Uniformen, Dolche, Schriftstücke, Patronen, Werkzeuge. Kopfbedeckungen. Erst Guy Brouard hatte ihn veranlasst, anders zu denken.
Es könnte eine Art Denkmal werden, Frank. Eine Auszeichnung der Insel und der Menschen, die gelitten haben. Ganz zu schweigen von denen, die umgekommen sind.
Das war die Ironie. Das war der Sinn.
Frank trug den abgegriffenen alten Umschlag zu dem Stuhl mit dem geflochtenen Sitz, neben dem eine Stehlampe mit verfärbtem Schirm und abgerissenen Troddeln stand. Er knipste die Lampe an und setzte sich. Gelbes Licht fiel auf den Umschlag auf seinem Schoß, und er betrachtete ihn eine Minute lang, bevor er ihn öffnete und ihm ein dünnes Bündel entnahm, das aus vierzehn Blättern brüchigen Papiers bestand.
Er zog ein Blatt Papier aus der Mitte des Bündels heraus und glättete es auf seinem Schenkel. Die anderen Blätter legte er zu Boden. Er studierte das eine Blatt mit so viel intensiver Aufmerksamkeit, dass jeder uneingeweihte Beobachter hätte glauben müssen, er habe sich noch nie damit befasst. Und warum hätte er das auch tun sollen? Es war ja nur ein harmloses Stück Papier.
6 Würstchen, las er. 1 Dutzend Eier, 2 kg Mehl, 6 kg Kartoffeln, 1 kg Bohnen, 200 g Tabak.
Es war eine simple kleine Liste über Käufe von Waren, die vom Benzin bis zur Malerfarbe reichten. Es war insgesamt gesehen ein unwichtiges Schriftstück, ein nichts sagender kleiner Zettel, der leicht verloren gehen konnte, ohne dass es jemandem auffiel. Frank jedoch sagte er vieles, vor allem auch über die Arroganz der Besatzer, die alles, was sie taten, schriftlich festgehalten und diese Unterlagen aufbewahrt hatten, um am Tag ihres Sieges ihre Helfer identifizieren zu können.
Wäre Frank nicht von Kindesbeinen an beigebracht worden, dass jedes Stück, das irgendwie mit Guernseys schweren Zeiten der Prüfung zu tun hatte, unschätzbaren Wert besaß, so hätte er diesen Zettel vielleicht absichtlich verloren, und kein Mensch hätte etwas davon gewusst. Aber er hätte gewusst, dass er einmal existiert hatte, und nichts hätte dieses Wissen löschen können.
Hätten die Ouseleys sich nicht auf die Pläne zum Bau eines Museums eingelassen, so wäre dieses Schriftstück wahrscheinlich unentdeckt geblieben, auch von Frank. Aber nachdem er und sein Vater Guy Brouards Angebot angenommen hatten, das Graham-Ouseley-Kriegsmuseum zur Mahnung und Aufklärung der heutigen und zukünftigen Bürger von Guernsey zu errichten, hatte das für ein solches Unternehmen unerlässliche Sichten, Sortieren und Ordnen des Materials begonnen. Dabei war diese kleine Liste zum Vorschein gekommen. 6 Würstchen - im Jahr 1943 -, 1 Dutzend Eier, 2 kg Mehl, 6 kg Kartoffeln, 1 kg Bohnen, 200 g Tabak.
Guy hatte sie entdeckt und, da er kein Deutsch sprach, gefragt: »Frank, was ist das?«
Frank hatte die Übersetzung geliefert, automatisch und gedankenlos, ohne sich die Zeit zu nehmen, jede einzelne Zeile zu lesen oder über die Bedeutung der kleinen Liste nachzudenken. Die wurde ihm erst klar, als das letzte Wort - Tabak - über seine Lippen kam. Als ihm aufging, was das bedeutete, hatte er zum oberen Teil des Blatts hinaufgeschaut und es Guy hingehalten, der es schon gelesen hatte. Guy, der beide Eltern durch die Deutschen verloren hatte, seine ganze Familie und sein Erbe.
»Wie wollen Sie das angehen?«, fragte Guy.
Frank antwortete
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