12 - Wer die Wahrheit sucht
Fakten vor Augen zu halten, sie so zu sehen, wie sie sind, und sie auf den Tisch zu legen.«
Das sah Deborah ein. Sie verstand, dass Simons leidenschaftslose Einschätzung Cherokee Rivers aus zwei Quellen gespeist wurde: aus seiner wissenschaftlichen Ausbildung, auf die er bei polizeilichen Untersuchungen regelmäßig zurückgriff; und aus der Tatsache, dass seine Bekanntschaft mit Chinas Bruder nur oberflächlicher Natur war. Kurz gesagt, Simon hatte nichts in Cherokees Unschuld oder Schuld investiert. Bei ihr selbst verhielt sich die Sache anders.
Sie sagte: »Nein, ich kann nicht glauben, dass er das getan hat. Ich kann es einfach nicht glauben.«
Simon nickte. Deborah fand, dass sein Gesicht unerklärlich bedrückt aussah, aber sie redete sich ein, es müsse an der Beleuchtung liegen. »Ja«, sagte er, »genau das macht mir Kopfzerbrechen«, und ging ihr voraus in das Restaurant hinein.
Sie wissen, was das heißt, Frank? Sie wissen doch, was das heißt. Frank konnte sich nicht erinnern, ob Guy Brouard die Worte ausgesprochen oder ob nur seine Miene sie ausgedrückt hatte. Aber er wusste, dass sie zwischen ihnen gestanden hatten. Sie waren so real wie der Name G. H. Ouseley und die Adresse Moulin des Niaux, die eine arrogante deutsche Hand oben auf die Quittung für erhaltene Waren gesetzt hatte: Würstchen, Mehl, Eier, Kartoffeln und Bohnen. Und Tabak, damit der Judas unter ihnen nicht mehr das Kraut zu rauchen brauchte, das, von den Büschen an der Straße gepflückt, getrocknet und in dünnes Papier eingerollt, zu Zigaretten gedreht wurde.
Frank brauchte nicht zu fragen, er wusste, welchen Preis diese Waren gekostet hatten. Er wusste es, weil drei der mutigen Männer, die bei trübem Kerzenschein in der Sakristei der Kirche St. Pierre du Bois, die kleine Untergrundzeitung G.I.F.T. getippt hatten, wegen dieser Tätigkeit in Arbeitslager gekommen waren, während der vierte lediglich in ein Gefängnis in Frankreich transportiert worden war. Die drei waren in den Arbeitslagern oder als Folge ihres Aufenthalts dort ums Leben gekommen. Der vierte hatte nur ein Jahr im Gefängnis gesessen. Wenn er überhaupt einmal von dieser Zeit gesprochen hatte, hatte er sie als grausam und unmenschlich dargestellt, aber Frank war inzwischen klar, dass er sie so hatte sehen müssen. Wahrscheinlich hatte er sie auch so im Gedächtnis, denn sich zu erinnern, dass dieser Abtransport nach Frankreich nach dem Verrat an seinen Kameraden eine logische und notwendige Maßnahme zu seinem Schutz gewesen war... sich zu erinnern, dass dies ein Mittel gewesen war, den Spitzel zu schützen, der bei seiner Heimkehr den Nazis viel zu danken hätte... sich zu erinnern, dass dies die Entschädigung für eine Tat war, die er begangen hatte, weil er hungrig gewesen war, Herrgott noch mal, und nicht, weil er an irgendetwas geglaubt hatte... Wie sollte jemand damit leben, dass er den Tod seiner Freunde verursacht hatte, um endlich einmal wieder etwas Anständiges in den Magen zu bekommen?
Mit der Zeit war die Lüge, dass er zu denen gehörte, die von einem Quisling verraten worden waren, Graham Ouseleys Wahrheit geworden. Anders hätte er vermutlich nicht weiterleben können, und wenn man ihn damit konfrontiert hätte, dass er selbst der Quisling gewesen war und den Tod drei ehrenhafter Männer auf dem Gewissen hatte, so hätte das seinen gequälten Geist zweifellos in tödliche Verwirrung gestürzt. Doch genau zu dieser Konfrontation würde es kommen, wenn die Presse einmal begann, in den Unterlagen herumzuwühlen, die sie als Beweis für die genannten Namen verlangen würde.
Frank konnte sich vorstellen, was das für ein Leben würde, wenn die Story herauskam. Die Presse würde sie tagelang breittreten, die Fernseh- und Rundfunksender der Insel würden sie sofort übernehmen. Unter dem Protestgeheul der Nachkommen der Kollaborateure - sowie jener Kollaborateure, die wie Graham noch lebten - würde die Presse dann die einschlägigen Beweise präsentieren. Die Story würde nur gedruckt werden, wenn vorher diese Beweise beigebracht wurden, und so würde unter den von der Zeitung veröffentlichten Namen der Verräter auch der Name Graham Ouseley erscheinen. Welch eine köstliche Ironie, ein gefundenes Fressen für die Medien: Dass der Mann, der so versessen darauf war, die Schurken zu entlarven, die Internierung, Deportation und Tod über ihre Mitbürger gebracht hatten, selbst ein Schurke erster Ordnung war, ein Aussätziger, der mit Schimpf und
Weitere Kostenlose Bücher