12 - Wer die Wahrheit sucht
dass sie von dem nichts zu erwarten hatte. Ich hab's ihr immer wieder gesagt, aber sie hört ja nie zu. Jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte sehen, was da lief.«
»Was denn?«, fragten Deborah und China gleichzeitig.
Stephen sah sie mit der gleichen Geringschätzung an, mit der er zuvor sein Zuhause und seine Mutter bedacht hatte. »Er hat sich's woanders geholt«, sagte er kurz. »Ich hab's ihr immer wieder gesagt, aber sie wollte es nicht hören. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er's mit einer anderen treiben würde nach den ganzen Verrenkungen, die sie gemacht hatte, um sich ihn zu schnappen - mit Operation und allem Drum und Dran, auch wenn er dafür gezahlt hat. ›Das bildest du dir ein‹, hat sie immer zu mir gesagt. ›Darling, das denkst du dir doch nur aus, weil du selber ein bisschen Pech gehabt hast. Warte nur ab, eines Tages hast du auch deine eigene Freundin. Glaub mir.
So ein großer, gut aussehender, strammer Junge wie du.‹ Mein Gott! So eine blöde Kuh!«
Deborah versuchte, das alles zu sortieren, um ein klares Bild zu bekommen: der Mann, die Frau, der Junge, die Mutter, und die Beschuldigungen. Sie sagte: »Weißt du, wer die andere Frau war, Stephen?« Endlich sah es so aus, als würden sie weiterkommen. Deborah bedeutete China, die begierig noch einen Schritt näher an Stephen Abbott herangetreten war, den Jungen nicht durch ihren Eifer, der Sache möglichst schnell auf den Grund zu kommen, zu verschrecken.
»Klar, weiß ich das. Cynthia Moullin.«
Deborah sah China an, die den Kopf schüttelte. Deborah sagte zu Stephen: »Cynthia Moullin? Wer ist das?«
Eine Schulkameradin, wie sich herausstellte. Ein Teenager aus der Weiterbildungsfachschule.
»Aber woher weißt du das alles?«, fragte Deborah, und als er vielsagend die Augen verdrehte, erkannte sie die Wahrheit. »Mr. Brouard hat sie dir ausgespannt? War es so?« Statt einer Antwort sagte er: »Wo ist dieser blöde Köter?«
Als ihr Bruder den dritten Morgen in Folge nicht ans Telefon ging, hielt Valerie Duffy es nicht mehr aus. Nachdem Kevin zur Arbeit gegangen war, nachdem Ruth Brouard gefrühstückt hatte und sie sich eine freie Stunde gönnen konnte, setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr nach La Corbiere. Sie wusste, sie würde nicht vermisst werden.
Bei ihrer Ankunft am Muschelhaus sah sie als Erstes den verwüsteten Garten und erschrak heftig. Dieses Werk der Zerstörung sprach eine deutliche Sprache. Henry war ein guter Mensch - ein hilfsbereiter Bruder, ein treuer Freund und seinen Töchtern ein liebevoller Vater -, aber er war jähzornig und explodierte schnell. Sie hatte seinen blind wütenden Zorn nicht mehr erlebt, seit sie erwachsen war, dafür jedoch seine Auswirkungen. Zum Glück hatte er ihn noch nie gegen einen Menschen gerichtet, obwohl sie gefürchtet hatte, dass er genau das tun würde, als sie an jenem Tag hierher gekommen war. Er war gerade dabei gewesen, seiner jüngsten Tochter ihre Lieblingsplätzchen zu backen, als sie ihm eröffnet hatte, dass sein Arbeitgeber und guter Freund Guy Brouard regelmäßig mit seiner ältesten Tochter Geschlechtsverkehr hatte.
Es war das einzige Mittel gewesen, der Geschichte einen Riegel vorzuschieben. Sie hatte versucht, mit Cynthia zu sprechen, ohne das Geringste zu erreichen. »Wir lieben uns, Tante Val«, hatte das junge Mädchen ihr mit der ganzen großäugigen Unschuld der frisch Entjungferten erklärt. »Du warst doch bestimmt auch mal verliebt und weißt, wie das ist?«
Das Mädchen war nicht davon zu überzeugen gewesen, dass Männer wie Guy Brouard gar nicht lieben konnten. Sie wusste, dass er neben ihr auch mit Anaïs Abbott schlief, aber das ließ sie völlig ungerührt. »Oh, darüber haben wir gesprochen. Er muss das tun«, sagte Cynthia. »Sonst denken die Leute, er hätte was mit mir.«
»Aber er hat ja auch was mit dir. Er ist achtundsechzig Jahre alt. Mein Gott, dafür könnte er ins Gefängnis wandern.«
»Nein, nein, Tante Val. Wir haben gewartet, bis ich sechzehn war.«
»Gewartet -?« Valerie hatte an die Jahre gedacht, in denen ihr Bruder in Le Reposoir gearbeitet und immer mal wieder eine seiner Töchter mitgenommen hatte. Es war ihm wichtig, mit jeder von ihnen auch Zeit allein zu verbringen, seit ihre Mutter sie wegen eines Rockstars verlassen hatte.
Cynthia hatte ihren Vater am häufigsten begleitet. Valerie hatte sich nichts dabei gedacht, bis ihr eines Tages die Blicke aufgefallen waren, die zwischen dem Mädchen und Guy Brouard
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