12 - Wer die Wahrheit sucht
sicher schwer für dich, jetzt, wo er fort ist.«
Paul stand plötzlich auf. Er wischte sich die Hände an seiner Jeans ab. Deborah, die fürchtete, er würde davonlaufen, sprach eilig weiter, um irgendwie Zugang zu dem schweigsamen Jungen zu finden.
»Wenn jemand so plötzlich stirbt - besonders so wie... ich meine, auf diese schreckliche Art, wie er sterben musste -, würden wir alles tun, um ihn zurückzuholen. Und wenn wir das nicht können, wenn wir erkennen, dass wir es nicht können, dann möchten wir irgendetwas von diesem Menschen haben, um ihn noch eine Weile länger bei uns zu haben. Bis wir ihn gehen lassen können.«
Paul scharrte mit den Füßen im Kies. Er wischte sich die Nase am Ärmel seines Flanellhemds ab und sah mit wachsamem Blick kurz zu Deborah hinüber. Dann drehte er hastig den Kopf und starrte unverwandt auf das vielleicht dreißig Meter entfernte Tor. Deborah hatte es hinter sich geschlossen und machte sich jetzt deswegen Vorwürfe. Er würde sich von ihr eingesperrt fühlen und unter diesen Umständen wohl kaum bereit sein, mit ihr zu sprechen.
Sie sagte: »Die Leute früher, zur Zeit von Königin Victoria, haben es richtig gemacht. Sie haben Schmuckstücke aus den Haaren der Toten angefertigt. Wusstest du das? Ich weiß, das klingt makaber, aber es kann doch auch ein wunderbarer Trost gewesen sein, eine Brosche oder einen Anhänger zu besitzen, in dem noch etwas von dem Menschen enthalten war, den sie geliebt hatten. Es ist schade, dass wir diesen Brauch vergessen haben, denn auch wir möchten gern etwas behalten, und wenn ein Mensch stirbt und uns nichts von sich zurücklässt... was bleibt uns da anderes übrig, als zu nehmen, was wir finden?«
Paul hörte auf, mit den Füßen zu scharren. Er stand stocksteif da wie die Skulpturen, aber auf seiner Wange zeichnete sich eine feine Röte ab, ein Daumenabdruck auf seiner hellen Haut.
Deborah sagte: »War es so mit dem Bild, das du Miss Brouard gegeben hast? Hat Mr. Brouard es dir gezeigt, weil er seine Schwester damit überraschen wollte? Vielleicht sagte er, es sei ein Geheimnis nur zwischen euch beiden. Daher wusstest du, dass sonst niemand etwas von dem Bild ahnte.«
Die Röte breitete sich wie ein Brand auf dem Gesicht des Jungen aus. Er sah Deborah kurz an und schaute gleich wieder weg. Er zupfte an seinem Hemd, das auf einer Seite schlaff aus der Jeans heraushing und ebenso abgetragen war wie diese.
Deborah sagte: »Als Mr. Brouard dann so plötzlich starb, hast du dir vielleicht gedacht, du würdest das Bild als Erinnerung behalten. Denn nur ihr beide wusstet ja davon. Wem hätte es geschadet. War es so, Paul?«
Der Junge zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen. Er stieß einen unartikulierten Schrei aus.
Deborah sagte: »Es ist ja gut. Wir haben das Bild wieder. Aber ich wollte eigentlich gern wissen -«
Er wirbelte herum und floh. Er rannte die Treppe hinunter und den Kiesweg entlang. Deborah sprang auf und rief nach ihm. Sie glaubte schon, sie würde ihn nicht wiedersehen, da blieb er etwa in der Mitte des Gartens neben der gewaltigen Bronzestatue einer kauernden Schwangeren mit melancholischem Gesicht und schweren Brüsten stehen. Er drehte sich nach Deborah um, und sie sah, dass er sie beobachtete. Sie machte einen Schritt vorwärts. Er rührte sich nicht. Sie begann, vorsichtig auf ihn zuzugehen wie auf ein verschrecktes Rehkitz. Als sie noch etwa zehn Meter von ihm entfernt war, rannte er wieder los. Aber an der Gartenpforte blieb er erneut stehen und blickte zurück. Er zog die Pforte auf und ließ sie offen. Er entfernte sich in östlicher Richtung, aber er rannte nicht.
Deborah verstand, dass sie ihm folgen sollte.
26
St. James musste um das Haus des Verwalters herumgehen, um Kevin Duffy bei der Arbeit in einem anscheinend brachliegenden, kleinen Nutzgarten zu finden. Er war dabei, den Boden mit einer Art Heugabel zu lockern, aber als er St. James um die Ecke kommen sah, hielt er inne.
»Meine Frau ist drüben im großen Haus«, sagte er. »Wahrscheinlich in der Küche.«
»Ich hätte gern mit Ihnen gesprochen«, erwiderte St. James. »Haben Sie einen Moment Zeit?«
Kevin Duffys Blick flog zu dem Gemälde, das St. James in der Hand hielt, aber wenn er es erkannte, so ließ er sich nichts anmerken. »Bitte«, sagte er.
»Wussten Sie, dass Guy Brouard ein Liebesverhältnis mit Ihrer Nichte hatte?«
»Meine Nichten sind sechs und acht Jahre alt, Mr. St. James. Guy Brouard mag vieles gewesen sein,
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