12 - Wer die Wahrheit sucht
»Los, sehen Sie zu, dass sie auf der Stelle verschwindet.«
»Das«, sagte St. James, »wird nicht leicht werden.« Er schob sich an Le Gallez und den Constables vorbei und suchte sich den Weg zurück zum Dolmen. »Hier, Deborah«, sagte er.
Sie drehte sich nach ihm um. »Du hast mich angelogen«, sagte sie nur.
Er antwortete erst, als er sie erreicht hatte. Gespensterbleich konnte er ihr Gesicht in der Dunkelheit ausmachen. Ihre Augen waren groß und dunkel, und er musste ausgerechnet in diesem Moment an die Augen des Kindes denken, das vor beinahe zwei Jahrzehnten am Grab seiner Mutter gestanden hatte, verwirrt und auf der Suche nach einem Menschen, dem es vertrauen konnte.
»Es tut mir Leid«, sagte er. »Mir ist nichts anderes eingefallen.«
»Ich möchte wissen -«
»Das ist jetzt weder der Ort noch die Zeit. Du musst wieder gehen, Deborah. Le Gallez hat bei mir ein Auge zugedrückt, aber er wird nicht für dich das zweite auch noch zudrücken.« »Ich gehe nicht«, entgegnete sie. »Ich weiß, was du denkst. Ich bleibe. Ich will dabei sein, wenn sich dein Verdacht als falsch erweist.«
»Hier geht es nicht um richtig oder falsch«, sagte er.
»Natürlich nicht. Darum geht es für dich nie. Für dich geht es immer nur um Fakten und darum, wie du sie interpretierst. Wer sie anders interpretiert, kann zum Teufel gehen. Aber ich kenne diese Menschen. Du nicht. Du hast sie nie kennen gelernt. Du siehst sie nur durch -«
»Du bist voreilig in deinem Urteil, Deborah. Wir haben jetzt keine Zeit, zu streiten. Es steht zu viel auf dem Spiel. Du musst gehen.«
»Dann müsst ihr mich schon wegtragen.« Er hörte diesen aufreizend endgültigen Ton in ihrer Stimme. »Du hättest dir das vorher überlegen sollen. Was mach ich, wenn die kleine Debbie merkt, dass ich gar nicht brav und harmlos zum Polizeipräsidium gehe?«
»Deborah, um Gottes willen -«
»Was, zur Hölle, ist hier eigentlich los?« Le Gallez stand direkt hinter St. James und trat drohend auf Deborah zu.
Es war St. James ein Gräuel, jemandem, den er kaum kannte, eingestehen zu müssen, dass er diese eigenwillige rothaarige Person nicht unter Kontrolle hatte und nie gehabt hatte. In einer anderen Welt und zu einer anderen Zeit hätte ein Mann vielleicht eine gewisse Macht über eine Frau wie Deborah besessen. Aber leider lebten sie nicht in dieser längst vergangenen Zeit, wo Frauen mit der Heirat zum Eigentum ihrer Männer wurden.
Er sagte: »Sie will nicht -«
»Ich gehe nicht.« Deborah sprach Le Gallez direkt an.
»Sie tun, was Ihnen gesagt wird, Madam, sonst lasse ich Sie einsperren«, entgegnete Le Gallez.
»Wunderbar«, sagte sie. »Darauf verstehen Sie sich ja offensichtlich bestens. Sie haben schon zwei Freunde von mir ohne wirklich ausreichende Gründe eingesperrt. Warum also nicht auch mich?«
»Deborah!« St. James wusste, dass es sinnlos war, vernünftig mit ihr reden zu wollen, aber er versuche es trotzdem. »Du kennst nicht alle Fakten.« »Und wie kommt das?«, fragte sie spitz.
»Es war keine Zeit.«
»Ach was?«
An ihrem Ton erkannte er, dass er nicht richtig eingeschätzt hatte, wie sehr sein heimlicher Alleingang sie treffen würde. Aber er hatte einfach nicht die Freiheit gehabt, sie so umfassend zu unterrichten, wie sie das anscheinend wollte. Dazu war alles viel zu schnell gegangen.
»Wir sind zusammen hierher gekommen«, sagte sie leise zu ihm. »Wir wollten ihnen gemeinsam helfen.«
Den Rest brauchte sie nicht zu sagen: Also sollten wir es auch gemeinsam zu Ende bringen. Aber so war es nicht, und im Moment konnte er ihr nicht erklären, warum. Sie waren kein Witzblattpärchen à la Tommy und Tuppence, das nach Guernsey gekommen war, um sich mit Schlagfertigkeit und Witz zwischen Chaos, Mord und Anarchie hindurchzulavieren. Ein Mensch war ums Leben gekommen, nicht irgendein erfundener Schurke, der um die Ecke gebracht worden war, weil er es nicht besser verdient hatte. Und Gerechtigkeit gab es für diesen Menschen jetzt nur noch, wenn es gelang, seinen Mörder in dem Moment zu fassen, in dem er sich selbst verriet. Doch der Erfolg dieses Bemühens war ernstlich gefährdet, wenn es St. James nicht schaffte, seiner Frau irgendwie Vernunft beizubringen.
Er sagte: »Es tut mir Leid. Wir haben jetzt keine Zeit mehr. Ich erkläre dir alles später.«
»Meinetwegen«, gab sie zurück. »Dann warte ich. Du kannst mich ja im Gefängnis besuchen.«
»Deborah, um Himmels willen...«
Le Gallez unterbrach. »Herrgott,
Weitere Kostenlose Bücher