12 - Wer die Wahrheit sucht
habe gewusst, dass einer der beiden Rivers der Täter sein müsse - denn das war die einzige vernünftige Erklärung für alles, was geschehen war, vom Ring am Strand bis zur Flasche auf der Wiese -, aber für ihn hatte von Anfang an festgestanden, dass es der Bruder sein würde, wenn es ihm auch an der moralischen Kraft gefehlt hatte, sich dies offen einzugestehen. Es hatte weniger damit zu tun gehabt, dass Mord ein Verbrechen war, das er eher Männern als Frauen zutraute. Es hatte damit zu tun gehabt, dass er auf einer primitiven Ebene, die er am liebsten gar nicht zur Kenntnis genommen hätte, Cherokee River aus dem Weg haben wollte. Das war von dem Moment an so gewesen, als der Amerikaner liebenswürdig und mit gesunden Gliedern in London vor ihrer Tür gestanden und seine Frau Debs genannt hatte.
Er antwortete daher Le Gallez nicht gleich. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich irgendwie aus der Konfrontation mit seiner Fehlbarkeit und seiner erbärmlichen persönlichen Schwäche herauszuwinden.
»Saumarez«, sagte Le Gallez neben ihm. »Halten Sie sich bereit. Die anderen -«
»Sie bringt sie bestimmt heraus«, unterbrach St. James. »Sie sind Freundinnen. China wird auf meine Frau hören. Sie wird sie sicher herausbringen. Es gibt keine Alternative.«
»Ich bin nicht bereit, dieses Risiko auf mich zu nehmen«, sagte Le Gallez.
Die Handgranate sah uralt aus. Selbst von der anderen Seite der Kammer konnte Deborah erkennen, dass das Ding völlig mit Erde verkrustet und von Rost verfärbt war. Es schien aus dem Zweiten Weltkrieg zu stammen. Sie konnte nicht glauben, dass sie wirklich gefährlich war. Wie sollte so ein altes Ding heute noch explodieren?
China schien ihre Gedanken zu lesen. »Aber du weißt es nicht mit Sicherheit, nicht wahr?«, sagte sie. »Und ich auch nicht. Erzähl mir, wie sie es rausgebracht haben, Debs.«
»Was?«
»Alles. Dass ich es war. Das Ganze hier. Warum haben sie dich mitgenommen? Das hätten sie nicht getan, wenn sie nicht Bescheid gewusst hätten.«
»Ich sage dir doch, ich bin Simon gefolgt. Wir saßen beim Abendessen, und da kam die Polizei. Simon sagte mir -«
»Lüg mich nicht an, okay? Sie mussten die Mohnölflasche gefunden haben, sonst hätten sie Cherokee nicht abgeholt. Sie dachten sich, er hätte die anderen Spuren gelegt, um mich in Verdacht zu bringen. Denn warum sollte ich mich selbst in Verdacht bringen wollen, einzig im Vertrauen darauf, dass sie diese Flasche finden würden? Okay, sie haben sie also gefunden. Aber wie ging es weiter?«
»Ich weiß nichts von einer Flasche«, erklärte Deborah. »Ich weiß nichts von Mohnöl.«
»Bitte! Mach mir doch nichts vor. Simon würde dir nie etwas Wichtiges verschweigen. Also los, sag's mir, Debs.«
»Ich habe dir alles gesagt. Ich weiß nicht, was sie wissen. Simon hat mir nichts gesagt. Er wollte nicht.«
»Ah, er hat dir nicht vertraut?« »Anscheinend nicht.« Deborah fühlte sich bei diesem Eingeständnis, als wäre sie von Vater oder Mutter mitten ins Gesicht geschlagen worden. Eine Mohnölflasche. Er hatte ihr nicht vertraut. Sie sagte: »Wir müssen gehen. Sie warten. Sie werden den Dolmen stürmen, wenn wir nicht -«
»Ich nicht«, sagte China.
»Was meinst du?«
»Ich gehe nicht. Ich gehe nicht ins Gefängnis. Ich lasse mich nicht vor Gericht stellen. Ich verschwinde.«
»Du kannst hier nicht weg, China. Du kannst die Insel nicht verlassen. Sie haben wahrscheinlich schon... Du kannst nicht weg.«
»Du hast mich falsch verstanden«, sagte China. »Ich will hier gar nicht weg. Ich verschwinde einfach, das ist was anderes. Du und ich, wir verschwinden zusammen. Freundinnen - wenn man so sagen will - bis zum letzten Atemzug.« Sie legte die Taschenlampe weg und begann, am Stift der alten Granate zu ziehen. »Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lang es dauert, bis diese Dinger explodieren«, murmelte sie. »Weißt du es?«
»China!«, rief Deborah. »Nein. Das klappt doch nicht. Und wenn doch -«
»Darauf baue ich«, sagte China.
Zu Deborahs Entsetzen gelang es China, den Stift zu lockern. Alt und verrostet, sechzig Jahre lang den Elementen ausgesetzt, hätte er eigentlich unverrückbar festsitzen müssen. Aber so war es nicht. Wie eine Erinnerung - ähnlich den scharfen Bomben, die bis heute gelegentlich in Süd-London gefunden wurden - lag sie in Chinas Hand, während Deborah sich vergeblich ins Gedächtnis zu rufen versuchte, wie viel Zeit ihnen noch blieb - wie viel Zeit ihr noch blieb -, um
Weitere Kostenlose Bücher