12 - Wer die Wahrheit sucht
Morgen über sagte ihm, dass das Gespräch, das sie beim Frühstück geführt hatten, sie immer noch belastete. Es war eine jener sinnlosen Auseinandersetzungen gewesen, bei der nur einer der Streitenden versteht, worum es eigentlich geht. Und der war unglücklicherweise nicht er gewesen. Er hatte lediglich bei Deborah angefragt, ob sie es für vernünftig halte, sich zum Frühstück nur gegrillte Tomaten und Champignons zu bestellen, woraufhin sie mit einer Rekapitulation ihrer gesamten gemeinsamen Geschichte antwortete. Das zumindest hatte er am Ende gefolgert, nachdem Deborah ihm vorgeworfen hatte, sie ständig zu »gängeln, als wäre ich unfähig, auch nur einen eigenen Entschluss zu fassen. Ich habe genug davon. Ich bin ein erwachsener Mensch und wäre dir dankbar, wenn du endlich mal anfingst, mich entsprechend zu behandeln.«
Er hatte erstaunt die Augen aufgerissen, dann den Blick auf die Speisekarte gesenkt und sich gefragt, wie es von einem Gespräch über Proteine zu Anklagen wegen herzloser Bevormundung gekommen war. »Wovon redest du, Deborah?«, hatte er törichterweise gefragt, und diese Frage, die zeigte, dass er ihrer Logik nicht hatte folgen können, hatte direkt ins Desaster geführt.
Ein Desaster war es allerdings nur in seinen Augen gewesen. In ihren war es ganz eindeutig ein Moment gewesen, in dem endlich lang vermutete, aber unaussprechliche Wahrheiten über ihre Ehe zutage kamen. Er hatte gehofft, sie würde ihm die eine oder andere Wahrheit auf der Fahrt zur Trauerfeier und danach zur Beerdigung offenbaren, aber das hatte sie nicht getan. So vertraute er nun darauf, dass sich mit dem Verstreichen einiger Stunden die Dinge zwischen ihnen von selbst regeln würden.
»Das muss der Sohn sein«, murmelte ihm Deborah zu. Sie standen hinten in der Trauergemeinde an einem Hang, der sanft zu einer Mauer emporstieg. Innerhalb dieser Mauer und vom Rest des Geländes getrennt, war ein Garten. Wege schlängelten sich zwischen gepflegten Büschen und Blumenbeeten unter Bäumen hindurch, die, jetzt kahl, mit Bedacht so gepflanzt waren, dass sie steinernen Sitzbänken und kleinen Teichen Schatten spendeten. Überall waren moderne Skulpturen zu sehen: eine Granitfigur in zusammengekauerter Haltung; eine Elfe in Kupfer, von Grünspan überzogen, unter den Blättern einer Palme; drei Bronzemädchen mit Schleppen aus Seetang; eine marmorne Nymphe, die eben einem Teich entstieg. Eine erhöhte Terrasse mit einer einsamen Bank unter einer überwachsenen Pergola an ihrem hinteren Ende überblickte die Anlage. Auf dieser Terrasse, zu der fünf Stufen hinaufführten, war das Grab ausgehoben worden, vielleicht damit künftige Generationen, wenn sie den Garten betrachteten, gleichzeitig die letzte Ruhestätte des Mannes vor Augen hatten, der ihn geschaffen hatte.
St. James sah, dass der Sarg schon in die Grube hinuntergelassen worden war, die letzten Gebete waren gesprochen. Eine blonde Frau, die eine Sonnenbrille trug, als befände sie sich bei einer Beerdigung in Hollywood, trieb jetzt den Mann an ihrer Seite an, vorzutreten. Als sie mit Worten nichts erreichte, versetzte sie ihm einen kleinen Stoß in Richtung zum Grab. In dem Erdhaufen daneben wartete eine mit schwarzen Bändern geschmückte Schaufel.
St. James stimmte Deborah zu: Das musste der Sohn sein, Adrian Brouard, der Einzige, der, neben Ruth Brouard und den Geschwistern River, am Vorabend der Ermordung seines Vaters im Haus gewohnt hatte.
Brouard verzog gereizt den Mund. Er wehrte seine Mutter ab und näherte sich dem Erdhaufen. Vom ehrfürchtigen Schweigen der Menge begleitet, nahm er eine Schaufel voll Erde und kippte sie auf den Sarg hinunter. Der dumpfe Aufprall, als die Erde das Holz traf, klang wie das Echo einer zufallenden Tür.
Adrian Brouard folgte eine Frau, die etwas Vogelähnliches hatte und so schmächtig war, dass man sie von hinten leicht für einen pubertären Knaben hätte halten können. Sie reichte die Schaufel feierlich an Adrian Brouards Mutter weiter, der, nachdem sie ihre Pflicht getan hatte, die Schaufel von einer dritten Frau aus der Hand gerissen wurde, noch ehe sie diese wieder in den Erdhaufen stoßen konnte.
Rund um das Grab erhob sich Gemurmel, und St. James sah sich die Frau genauer an. Unter dem riesigen schwarzen Hut, den sie trug, war von ihrem Gesicht kaum etwas zu erkennen, aber es war immerhin zu sehen, dass sie eine tolle Figur hatte, die sie mit einem engen anthrazitgrauen Kostüm zusätzlich zur Geltung
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