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12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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brachte. Nachdem auch sie ihr Häufchen Erde in die Grube geworfen hatte, übergab sie die Schaufel einem linkischen jungen Mädchen mit hängenden Schultern. Sie erwies dem Toten ihre Reverenz und wollte die Schaufel dann einem Jungen reichen, der etwa in ihrem Alter und seinem Aussehen nach vermutlich ihr Bruder war. Doch anstatt nun seinerseits dem Ritual Genüge zu tun, wandte sich der Junge plötzlich mit einer heftigen Bewegung ab und drängte sich zwischen den Trauergästen hindurch.
    Neuerliches Gemurmel erhob sich.
    »Was hat das denn zu bedeuten?«, fragte Deborah leise.
    »Tja, das sollte man sich auf jeden Fall näher ansehen«, antwortete St. James. Er erkannte die Gelegenheit, die sich ihm durch das Verhalten des Jungen bot. »Meinst du, du kannst ihm mal auf den Zahn fühlen, Deborah? Oder möchtest du lieber zu China zurück?«
    Er hatte Deborahs Freundin noch immer nicht kennen gelernt und war nicht sicher, ob er sie überhaupt kennen lernen wollte, wenn er auch den Grund für sein Widerstreben nicht zu fassen bekam. Aber er wusste, dass ein Zusammentreffen unvermeidlich war, und redete sich deshalb ein, er wolle ihr etwas Positives mitteilen können, wenn es so weit war. Bis dahin jedoch sollte Deborah jederzeit die Freiheit haben, ihre Freundin zu besuchen. Sie hatte das heute noch nicht getan, und die beiden Amerikaner fragten sich vermutlich, was ihre Londoner Freunde inzwischen erreicht hatten.
    Cherokee hatte schon früh am Morgen angerufen, um zu hören, was St. James bei der Polizei erfahren hatte. Er hatte auf St. James' mageren Bericht in bemüht heiterem Ton geantwortet, ein Zeichen dafür, dass seine Schwester in der Nähe war. Am Ende des Gesprächs erklärte er, er habe vor, zu der Beerdigung zu gehen. Er beharrte auf seinem Entschluss, an der »action«, wie er es formulierte, teilzunehmen, und ließ sich erst davon abbringen, als St. James taktvoll darauf hinwies, dass seine Anwesenheit einen unnötigen Eklat auslösen könnte, der es dem wahren Mörder vielleicht gestatten würde, in der Menge unterzutauchen. Gut, dann werde er eben warten, was sie herausfänden, sagte er. Und China würde ebenfalls warten.
    »Du kannst zu ihr fahren, wenn du möchtest«, sagte St. James jetzt zu seiner Frau. »Ich schaue mich hier noch ein bisschen um. Ich finde sicher jemanden, der mich später wieder mit in die Stadt zurücknimmt.«
    »Ich bin nicht nach Guernsey gekommen, um herumzusitzen und Chinas Händchen zu halten«, erwiderte Deborah.
    »Ich weiß. Deshalb -«
    Sie ließ ihn nicht aussprechen. »Ich werde sehen, was ich aus ihm herausbekommen kann, Simon.«
    St. James blickte ihr nach, als sie in Richtung des Jungen davonging. Er seufzte und fragte sich, warum die Kommunikation mit Frauen - besonders mit seiner Ehefrau - häufig dadurch ausgezeichnet war, dass man über die eine Sache sprach und dabei krampfhaft versuchte, den Subtext zu lesen, der sich auf eine ganz andere Sache bezog. Und er dachte darüber nach, wie seine Unfähigkeit, Frauen zu verstehen, sich auf seine Tätigkeit hier in Guernsey auswirken würde, da es ja immer mehr so aussah, als hätte Guy Brouard im Leben wie im Tod eine Menge mit Frauen zu tun gehabt.
    Als Margaret Chamberlain gegen Ende des Empfangs den Fremden mit dem lahmen Bein auf Ruth zugehen sah, wusste sie, dass er nicht wegen der Trauerfeier da war. Er hatte ihrer Exschwägerin am Grab nicht kondoliert wie alle anderen, sondern hatte den nachfolgenden Empfang dazu genutzt, um auf eine Art, die etwas Taxierendes an sich hatte, gemächlich sämtliche geöffneten Räume zu durchwandern. Margaret hatte trotz des Hinkens und der Beinschiene zuerst vermutet, er wäre vielleicht ein Einbrecher, aber als er sich schließlich Ruth vorstellte - ihr sogar eine Karte überreichte -, begriff sie, dass er etwas ganz anderes war. Und seine Anwesenheit musste mit Guys Tod zu tun haben. Oder mit der Aufteilung seines Vermögens, über die man ihnen nun, sobald der letzte Trauergast gegangen war, endlich reinen Wein einschenken würde.
    Ruth hatte nicht früher mit Guys Anwalt sprechen wollen. Es war, als wüsste sie, dass schlechte Nachrichten zu erwarten waren, die sie allen ersparen wollte. Allen oder einem, dachte Margaret. Die Frage war nur, wem.
    Sollte sich herausstellen, dass Adrian derjenige war, den sie schonen wollte, dass Guy also tatsächlich seinen einzigen Sohn enterbt hatte, so würde sie - Margaret - dafür sorgen, dass es einen Riesenskandal gab. Sie

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