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12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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einem Schrei war er ins Haus zurückgerannt, wo sein Bruder in der Küche mit einem Becher Tee und geröstetem Brot am Tisch saß. Eine brennende Zigarette lag im Aschenbecher neben ihm und eine zweite, die er vergessen hatte, rauchte auf dem Abtropfbrett über dem Spülstein vor sich hin. Er tat so, als sähe er sich eine Talkshow im Fernsehen an, während ihre kleine Schwester auf dem Fußboden mit einer Tüte Mehl spielte, aber in Wirklichkeit suchte er Streit und wartete nur darauf, dass Paul ins Haus stürmen und ihn anschreien würde.
    Paul erkannte das sofort, als er in die Küche kam. Billys höhnisches Grinsen verriet es ihm.
    Früher einmal wäre er vielleicht zu den Eltern gelaufen. Früher einmal hätte er sich vielleicht sogar wütend auf seinen Bruder gestürzt, ohne sich um den Unterschied von Größe und Körperkraft zu kümmern. Aber die Zeiten waren vorbei. Die Fleischerei, die so lange bestanden hatte - eine Institution unter den Geschäften am Market Square mit seinen stolzen alten Häusern und den schönen Kolonnaden -, hatte ihre Türen für immer geschlossen, die Familie hatte ihre Einkommensquelle verloren. Seine Mutter saß jetzt bei Boots in der High Street an der Kasse, und sein Vater arbeitete im Straßenbau, wo die Tage lang und hart waren. Sie waren um diese Zeit beide nicht zu Hause, aber selbst wenn einer von ihnen da gewesen wäre, wäre es Paul nicht eingefallen, ihm auch noch seine Probleme aufzubürden. Und es selbst mit Billy aufnehmen - nein. Er war zwar manchmal ein bisschen langsam, aber er war nicht dumm. Genau das wollte Billy, dass jemand sich mit ihm anlegte. Das wollte er schon seit Monaten und hatte eine Menge getan, um es zu erreichen. Er wollte sich prügeln, und es war ihm egal, mit wem.
    Paul jedoch gönnte ihm kaum einen Blick, sondern trat schnurstracks zum Schrank unter der Spüle und holte den alten Werkzeugkasten ihres Vaters heraus.
    Billy folgte ihm nach draußen und ließ ihre kleine Schwester einfach mit der Mehltüte auf dem Küchenboden sitzen. Zwei andere Geschwister stritten sich im oberen Stockwerk. Billy hätte eigentlich dafür sorgen müssen, dass sie sich auf den Weg zur Schule machten. Aber Billy tat selten das, was er eigentlich tun sollte. Er lungerte lieber den ganzen Tag hinten im verwilderten Garten herum und trank ein Bier nach dem anderen.
    »Oh!«, sagte er mit künstlicher Anteilnahme, als sein Blick auf Pauls misshandeltes Fahrrad fiel. »Was ist denn da passiert, Paulie? Hat da jemand was an deinem Rad gedreht?«
    Paul beachtete ihn nicht. Er hockte sich auf den Boden und nahm zuerst einmal den aufgeschlitzten Reifen ab. Taboo, der das Fahrrad bewacht hatte, beschnupperte es misstrauisch und winselte leise. Paul hielt in seiner Arbeit inne und brachte Taboo zum nächsten Laternenpfahl. Dort band er den Hund fest und wies zum Boden, um ihm zu bedeuten, dass er sich niederlegen sollte. Taboo gehorchte, aber es war offenkundig, dass es ihm nicht gefiel. Er traute Pauls Bruder nicht über den Weg, und Paul wusste, dass der Hund lieber dicht an seiner Seite geblieben wäre.
    »Du musst wohl weg?«, fragte Billy scheinheilig. »Und jetzt hat jemand dein Rad demoliert. So was Fieses. Die Leute sind echt gemein.«
    Paul wollte nicht weinen, weil er wusste, dass es seinem Bruder dann noch mehr Spaß machen würde, ihn zu quälen. Sicher würde Billy es befriedigender finden, ihn brutal zusammenzuschlagen, anstatt ihn nur in Tränen zu sehen, aber besser als gar nichts waren Tränen allemal. Doch Paul war entschlossen, ihm keinerlei Genugtuung zu ermöglichen. Er hatte längst begriffen, dass sein Bruder kein Herz hatte und auch kein Gewissen. Sein ganzer Lebenszweck bestand darin, anderen das Leben zur Hölle zu machen.
    Paul ignorierte ihn also, und das passte Billy gar nicht. Er lehnte sich an die Hausmauer und zündete sich eine weitere Zigarette an.
    Hoffentlich verfault deine Lunge, dachte Paul. Aber er sagte es nicht. Er ging schweigend daran, den alten Reifen zu flicken, legte sich die Viereckflicken und die Gummilösung zurecht, um mit ihnen den gezackten Schnitt zu schließen.
    »Jetzt lass mich mal überlegen, wo mein kleiner Bruder heute Morgen hin wollte«, sagte Billy und zog nachdenklich an seiner Zigarette. »Vielleicht zur Mama unten bei Boots? Oder wollt er vielleicht Dad das Mittagessen auf die Baustelle bringen? Hm. Glaub ich eher nicht. Dafür sind die Klamotten zu fein. Hey, wo hat er überhaupt das Hemd her? Hoffentlich nicht

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