12 - Wer die Wahrheit sucht
erreicht hatte, sagte sie: »Die Menschen tun manchmal die merkwürdigsten Dinge, wenn sie jemanden sehr vermissen, Stephen. Für alle anderen sieht es völlig irrational aus. Gefühllos. Oder auch durchtrieben. Aber wenn es uns gelingt, unsere eigene Sicht mal beiseite zu lassen, und wir versuchen zu verstehen, was hinter diesem Verhalten steckt -«
»Gleich als er tot war, hat sie damit angefangen!« Stephen schob den Beutel mit dem Fischfutter wieder in das Schränkchen und knallte die Tür zu. »Mit einem von der Bergwacht. Bloß hab ich da noch nicht gewusst, was abgeht. Das hab ich erst gecheckt, als wir in Palm Beach waren, und da hatten wir schon in Mailand gelebt und dann in Paris, und immer war sie mit irgendeinem Typen zusammen, immer. Darum sind wir jetzt auch hier, verstehen Sie? Weil der letzte Typ in London war, und sie ihn nicht dazu kriegen konnte, sie zu heiraten, und sie jetzt Panik hat, denn was soll sie tun, wenn ihr das Geld ausgeht und sie keinen Mann hat?«
Stephen begann, heftig zu weinen, Tränen der Schmerzes und der Demütigung. Voller Mitgefühl ging Deborah zu ihm. »Setz dich hier hin, Stephen«, sagte sie. »Bitte, setz dich.«
»Ich hasse sie«, stieß er hervor. »Echt, ich hasse sie. Dieses blöde Luder. Sie ist so dämlich, dass sie nicht mal kapiert -« Er konnte vor Schluchzen nicht weitersprechen.
Deborah zog ihn zu einem der Sitzkissen hinunter. Kniend sank er darauf, mit zuckendem Körper, den Kopf auf die Brust gedrückt.
Deborah berührte ihn nicht, obwohl es sie dazu drängte. Siebzehn Jahre und abgrundtiefe Verzweiflung. Sie wusste, wie das war. Nirgends ein Lichtstrahl, niemals endende Nacht, eine Hoffnungslosigkeit, die sich wie ein Leichentuch über einen legte.
»Es fühlt sich an wie Hass, weil es so stark ist«, sagte sie. »Aber es ist kein Hass. Es ist etwas ganz anderes. Die Kehrseite der Liebe, denke ich. Hass zerstört. Aber das hier...? Das, was du empfindest...? Das würde nichts Böses tun. Folglich ist es kein Hass. Wirklich nicht.«
»Aber Sie haben sie doch gesehen«, rief er. »Sie haben doch gesehen, wie sie ist.«
»Nur eine Frau, Stephen.«
»Nein. Das ist nicht alles. Sie haben gesehen, was sie getan hat.«
Deborah wurde hellhörig. »Was sie getan hat?«, wiederholte sie.
»Sie ist zu alt. Damit wird sie nicht fertig. Sie will einfach nicht sehen. Und ich kann's ihr nicht sagen. Wie hätte ich ihr das sagen sollen?«
»Was denn?«
»Dass es zu spät ist. Für alles. Dass er sie nicht liebt, nicht einmal scharf auf sie ist. Dass sie tun kann, was sie will, und sich doch nichts ändern wird. Dass nichts hilft. Kein Sex und keine Schönheitsoperation. Nichts. Sie hatte ihn längst verloren, und sie war zu blöd, um es zu sehen. Dabei hätte sie es merken müssen. Wieso hat sie's nicht gemerkt? Wieso hat sie immer weiter versucht, noch schöner und noch besser zu sein? Ihn anzuheizen, obwohl er doch schon längst nichts mehr von ihr wollte.«
Deborah hörte aufmerksam zu und dachte an all das, was der Junge zuvor erzählt hatte. Was seine Worte zu bedeuten hatten, war klar: Guy Brouard hatte sich von der Mutter des Jungen abgewandt. Die logische Schlussfolgerung war, dass er sich jemand anderem zugewandt hatte. Aber es konnte auch sein, dass der Mann sich etwas anderem zugewandt hatte. Wenn er Stephens Mutter nicht mehr gewollt hatte, was hatte er dann gewollt? Das mussten sie herausfinden.
Schmutzig, verschwitzt und außer Atem, den Rucksack schief auf dem Rücken, traf Paul Fielder in Le Reposoir ein. Obwohl er gewusst hatte, dass es viel zu spät war, war er auf seinem Rad zuerst von Le Bouet zur Town Church gefahren und am Wasser entlanggehetzt, als wären die vier Reiter der Apokalypse hinter ihm her. Es war ja möglich, dass der Beginn von Mr. Guys Trauerfeier sich aus irgendeinem Grund verzögert hatte. Dann würde er doch noch dabei sein können, wenn auch vielleicht nur zum letzten Teil.
Aber als er sah, dass auf der North Esplanade und auf den Parkplätzen am Pier keine Autos standen, war ihm klar, dass Billys Plan aufgegangen war. Sein älterer Bruder hatte es geschafft, ihm die Teilnahme an der Beerdigung seines einzigen Freundes zu vermasseln.
Paul hatte sofort gewusst, dass Billy sein Fahrrad demoliert hatte. Er hatte die hässliche Handschrift seines Bruders erkannt, sobald er hinausgekommen war und es gesehen hatte - den aufgeschlitzten Hinterreifen, die herabgerissene Kette, die nicht weit entfernt im Dreck lag. Mit
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