12 - Wer die Wahrheit sucht
ärgerte sich, so unvorsichtig gewesen zu sein. Und mehr noch ärgerte sie sich darüber, ihrem Mann Recht geben zu müssen. Aber, zum Teufel noch mal, es stimmte nicht, dass dies nicht ihre Sache war, wie Simon zweifellos behaupten würde, und sie war entschlossen, es zu beweisen. »Ich habe dich am Grab beobachtet«, bekannte sie. »Als du die Schaufel nehmen solltest. Ich hatte den Eindruck, du bist völlig - ich dachte - ich meine, ich habe ja auch jemanden verloren, obwohl es schon lange her ist - also dachte ich, du würdest vielleicht - ich sehe ein, das war ziemlich arrogant von mir. Aber es ist schlimm, einen Menschen zu verlieren. Manchmal hilft es, darüber zu sprechen.«
Er packte den Plastikbehälter und kippte die Hälfte des Inhalts ins Wasser, das sofort wieder zu brodeln begann. »Ich brauche über nichts zu sprechen. Schon gar nicht über ihn«, sagte er.
Deborah horchte auf. »War Mr. Brouard...? Um dein Vater zu sein, war er ein bisschen alt, aber anscheinend gehörst du zur Familie. War er vielleicht dein Großvater?« Sie wartete. Sie war überzeugt, wenn sie nur geduldig genug war, würde es herauskommen, was immer auch ihn so heftig erregte. »Ich bin übrigens Deborah St. James«, sagte sie, um es ihm leichter zu machen. »Ich bin aus London hergekommen.«
»Extra zur Beerdigung?« »Ja. Ich mag zwar, wie gesagt, Beerdigungen eigentlich nicht. Aber wer mag sie schon?«
Er prustete verächtlich. »Meine Mutter. Die hat's echt drauf. Aber sie hat auch Übung.«
Deborah hielt es für das Klügste, darauf nichts zu sagen. Der Junge würde schon noch erklären, was er meinte, und er tat es, wenn auch indirekt.
Er sagte, er heiße Stephen Abbott, und fügte hinzu: »Ich war auch sieben. Er ist in einen Whiteout geraten. Wissen Sie, was das ist?«
Deborah schüttelte den Kopf.
»Das passiert, wenn eine Wolke runterkommt. Oder der Nebel. Oder was auch immer. Aber es ist echt schlimm. Man kann nichts mehr erkennen, die Hänge nicht, die Skipisten nicht, gar nichts. Rundherum ist alles weiß, der Schnee und die Luft. Man verliert die Orientierung. Und manchmal -« Er wandte sich ab. »Manchmal kommt man darin um.«
»Dein Vater?«, fragte sie. »Das tut mir Leid, Stephen. Wie schrecklich, einen Menschen, den man liebt, auf so eine Art zu verlieren.«
»Sie sagte, er würde schon runterfinden. Er kennt sich aus, hat sie gesagt. Er weiß, was er tun muss. Erfahrene Skifahrer finden sich immer zurecht. Aber es hat zu lange gedauert, und dann kam ein Schneesturm, ein richtiger Blizzard, und er war meilenweit von der Stelle entfernt, wo er eigentlich hätte sein sollen. Sie haben ihn erst nach zwei Tagen gefunden. Er hatte versucht abzusteigen und sich das Bein gebrochen. Und sie sagten - sie sagten, wenn sie nur sechs Stunden früher gekommen wären.« Er schlug mit der Faust in die restlichen Kügelchen, so dass sie aus der Dose auf den Felsen spritzten. »Er wäre vielleicht am Leben geblieben. Aber das hätte sie nicht besonders gefreut.«
»Warum nicht?«
»Weil sie dann nicht auf Männerfang hätte gehen können.«
»Ach so.« Deborah konnte es sich vorstellen. Ein Kind verliert den geliebten Vater und erlebt, wie seine Mutter sich danach zuerst dem einen Mann zuwendet und dann dem Nächsten, vielleicht, um sich dem Schmerz nicht stellen zu müssen, den sie nicht ertragen kann, vielleicht auch in dem verzweifelten Bemühen, zu ersetzen, was sie verloren hat. Sie konnte sich vorstellen, wie das auf ein Kind wirken musste: Als hätte die Mutter den Vater nie geliebt.
Sie sagte: »Und Mr. Brouard war einer dieser Männer? Stand deine Mutter deshalb heute am Grab vorn bei der Familie? Das war doch deine Mutter, nicht? Die Frau, die vor dir und dem jungen Mädchen - deine Schwester? - Erde in die Grube geworfen hat?«
»Ja«, antwortete er, »das war meine Mutter.« Er fegte die verstreuten Kügelchen ins Wasser wie weggeworfenen Kinderglauben. »Die blöde Kuh«, nuschelte er. »Diese saublöde Kuh.«
»Warum? Weil sie wollte, dass du so tust, als gehörtest du -«
»Sie glaubt, sie war so schlau«, unterbrach er. »Sie glaubt, sie war so eine supergeile Nummer... Klar, Mama, brauchst dich nur hinzulegen, und schon fressen sie dir alle aus der Hand. Bis jetzt hat's zwar nicht hingehauen, aber wenn du's lang genug probierst, wird's schon noch klappen.« Stephen packte den Behälter mit dem Fischfutter, sprang auf und lief ins Teehaus zurück.
Wieder folgte ihm Deborah.
Als sie die Tür
Weitere Kostenlose Bücher