12 - Wer die Wahrheit sucht
aus meinem Schrank. Klauen wird nämlich bestraft. Vielleicht sollte ich mal nachschauen. Nur zur Sicherheit.«
Paul reagierte nicht. Er wusste, dass Billy nur mutig war, wenn der andere Angst zeigte. Den Mut, anzugreifen brachte er nur auf, wenn seine Opfer kuschten, so wie ihre Eltern kuschten. Paul packte tiefe Niedergeschlagenheit bei dem Gedanken. Sie ließen ihn Monat für Monat wie einen nicht zahlenden Gast in ihrem Haus leben, weil sie fürchteten, was er tun würde, wenn sie ihn hinauswarfen.
Paul war einmal wie sie gewesen und hatte mit ihnen zusammen tatenlos zugesehen, wie Billy das Eigentum der Familie auf Flohmärkten verscherbelte, um sich sein Bier und seine Zigaretten beschaffen zu können. Aber das hatte sich geändert, als Mr. Guy in sein Leben getreten war, Mr. Guy, der immer zu wissen schien, wie Paul ums Herz war, und der immer darüber sprechen konnte, ohne zu predigen oder Forderungen zu stellen oder irgendwas anderes als Kameradschaft dafür zu erwarten.
Halte den Blick auf das gerichtet, was wichtig ist, Prinz. Alles andere? Kümmere dich nicht darum, wenn es nicht deinen Träumen im Weg steht.
Darum konnte er sein Fahrrad richten, während sein Bruder sich über ihn lustig machte und ihn zu Tränen oder zum Kampf zu reizen suchte. Paul verschloss seine Ohren und konzentrierte sich. Den Reifen flicken, die Kette reinigen.
Er hätte den Bus zur Stadt nehmen können, aber das fiel ihm erst ein, als er sein Fahrrad wieder repariert hatte und auf halbem Weg zur Kirche war. Da war er schon so fertig, dass er sich nicht einmal mehr wegen seiner Dummheit selbst beschimpfte. So sehr hatte er sich gewünscht, beim Abschied von Mr. Guy dabei zu sein, dass er, als die Linie Fünf Richtung Norden vorbeizuckelte und ihn daran erinnerte, was hätte sein können, nur einen Gedanken hatte: Wie leicht es wäre, direkt vor den Bus zu fahren und allem ein Ende zu machen.
Da begann er endlich, zu weinen, aus Frustration und Verzweiflung. Er weinte um die Gegenwart, in der nun keines seiner Ziele mehr erreichbar schien, und um die Zukunft, die trostlos und leer war.
Obwohl er sah, dass kein einziges Auto mehr da war, ging er in die Town Church hinein. Zuerst aber nahm er Taboo auf den Arm. Er nahm den Hund mit, obwohl er wusste, dass das nicht in Ordnung war. Es war ihm egal. Mr. Guy war auch Taboos Freund gewesen, und außerdem würde er den Hund nicht einfach draußen auf der Straße lassen, da der ja gar nicht wusste, was los war.
Drinnen hing noch der Geruch nach Blumen und abgebrannten Kerzen in der Luft, und rechts von der Kanzel stand ein Banner mit der Aufschrift Requiescat in Pace. Aber das waren die einzigen Zeichen dafür, dass hier eine Trauerfeier stattgefunden hatte. Nachdem er einmal langsam den Mittelgang hinaufgeschritten war und sich vorgestellt hatte, er wäre einer der Trauergäste, ging er wieder hinaus zu seinem Fahrrad. Er wollte nach Le Reposoir.
Er hatte am Morgen die besten Kleider zusammengesucht, die er finden konnte, und gewünscht, er wäre nicht davongelaufen, als Valerie Duffy ihm am Tag zuvor das Hemd ihres Mannes angeboten hatte. So hatte er nur eine schwarze Hose mit Flecken darauf, seine abgetretenen alten Schuhe, die Einzigen, die er besaß, und ein Flanellhemd, das sein Vater früher an kalten Tagen in der Fleischerei getragen hatte. Um den Hals hatte er eine Strickkrawatte geschlungen, die ebenfalls seinem Vater gehörte, und über dem Ganzen trug er den roten Anorak seiner Mutter. Er wusste, dass er erbärmlich aussah, aber er konnte es nicht ändern.
Alles, was er auf dem Körper hatte, war entweder verdreckt oder durchgeschwitzt, als er den Brouardschen Besitz erreichte. Deshalb schob er sein Fahrrad hinter einen riesigen Kamelienbusch an der Mauer und lief mit Taboo an seiner Seite nicht die Auffahrt hinauf, wo jeder ihn hätte sehen können, sondern hielt sich unter den Bäumen.
Vorn sah er ab und zu Leute allein oder in kleinen Gruppen aus dem Haus kommen, und als er halb versteckt seitlich der Auffahrt einen Moment abwartete, um zu sehen, was vorging, kam ihm der Leichwagen entgegen, in dem der Sarg von Mr. Guy gewesen war, fuhr langsam an ihm vorüber und zum Tor hinaus, um den Rückweg zur Stadt einzuschlagen. Paul sah ihm nach, bevor er sich wieder dem Haus zuwandte. Er hatte auch das Begräbnis versäumt. Er hatte alles versäumt.
Sein ganzer Körper zog sich zusammen und bäumte sich gleichzeitig auf, als etwas sich so gewaltsam zu befreien suchte,
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