120, rue de la Gare
gehört... Stand heute morgen in den Zeitungen. Ich lebe in ständiger Angst, ihr nächstes Opfer zu sein...“
Er sah Faroux an.
„Sie glauben mir bestimmt nicht, Inspektor?“
„Hm...“ machte Faroux nur.
Er hatte den Revolver aufgehoben und hielt ihn mißtrauisch in der Hand.
„Haben Sie einen Waffenschein?“ fragte er.
„Selbstverständlich.“
Er wollte den Wisch heraussuchen.
„Den Papierkram erledigen wir später“, fuhr ich dazwischen. „Ich garantiere für den Doktor, Faroux. Das muß Ihnen im Moment reichen. Beschäftigen wir uns mit ernsthafteren Dingen. Wir haben keine Minute zu verlieren.“
Ich erklärte dem Doktor, was wir von ihm wollten.
„Nach dieser Aufregung weiß ich nicht, ob ich dazu tauge“, entschuldigte er sich. „Bestimmt sind meine Hände nicht ruhig genug. Aber wir können in meine Klinik fahren. Meine Assistenten sind ebenso fähig wie ich.“
Er ließ sich von seinem verdutzten Butler ein Jackett und einen dicken Mantel mit Pelzkragen bringen. Fünf Minuten später waren wir in der Privatklinik. Die diensthabenden Chirurgen machten sich sofort an die Arbeit. Das Mädchen hatte eine Kugel in der Herzgegend stecken, die herausgeholt werden mußte. Die Spezialisten garantierten nicht für einen erfolgreichen Ausgang der Operation.
Währenddessen zogen Faroux und ich uns in ein weißgestrichenes Zimmer zurück, das nicht grade überheizt war. Dorcières ließ uns Kaffeersatz bringen.
„Was ist das für ein Arzt, Burma?“ fragte Faroux, der immer mißtrauischer geworden war. „Glauben Sie seine Geschichte?“
„Blind! Die Erklärung für seine Überreaktion klang plausibel. Aber Sie können ja morgen früh Erkundigungen über ihn einziehen, wenn Sie unbedingt wollen.“
„Das werde ich auch!“ brummte Faroux.
„Sie scheinen ja viel Zeit zu haben, Inspektor“, bemerkte ich. „Na ja, mir soll’s egal sein. Aber jetzt können wir uns in aller Ruhe die Handtasche dieser Hélène ansehen...“
...was uns einige Überraschungen bereiten sollte.
Hélène
In dem Ausweis von Hélène Parmentier war als Geburtsdatum der 18. Juni 1921 angegeben. In Lyon hatte sie 44, rue Harfaux gewohnt. Jetzt wohnte sie in einem Hotel in Paris, Rue Delambre, dessen Werbekärtchen wir in ihrer Handtasche fanden.
Neben diesen Papieren entdecken wir auch drei Fotos mit bekannten Gesichtern: Ein Gruppenfoto mit Robert Colomer, eine Aufnahme des Mannes ohne Gedächtnis aus dem Stalag, allerdings in erheblich besserer Verfassung — glattrasiert, mit Brille und ohne Narbe auf der Wange; das dritte Foto schließlich zeigte Georges Parry vor seiner Gesichtsoperation.
Mit roten Ohren wühlte Faroux in der Handtasche. Plötzlich reichte er mir ein Telegramm. Es war an Mademoiselle Parmentier adressiert, c/o Monsieur und Madame Froment, Cap d’Antibes. Es war in Lyon aufgegeben worden, und zwar am Tage meiner Heimkehr, also an Colomers Todestag. Der Text lautete:
Wenn Sie heute abend ankommen, Bahnhof nicht verlassen. Auf mich warten. Habe Überraschung für Sie. Küsse. Bob.
Nicht schlecht. Aber der Brief, den mir der Inspektor gab, war noch besser. Er warf ein grelles, überraschendes Licht auf die wirkliche Identität von Hélène Parmentier. Ohne Datum, lautete er folgendermaßen:
Mein Kind,
wenn Du diesen Brief erhältst, werde ich nicht mehr unter den Lebenden weilen. Ich weiß, Du wirst es mir nicht übelnehmen, daß ich Dir das so direkt mitteile. Seit einigen Jahren — seit Du meinen „Beruf“ kennst — waren wir kaum noch Vater und Tochter füreinander... Jedesmal, wenn ich Dir schreibe, beauftrage ich einen sehr treuen Freund damit, Dir den Brief zu überbringen, falls er ein halbes Jahr nichts mehr von mir hört. Dieser Brief ist also so etwas wie ein Testament. In dem Haus, das Du nie betreten hast, dessen Schlüssel Du aber besitzt, wirst Du das Nötigste finden, um ein sorgloses Leben führen zu können. Du kennst das Haus: Vom Lion kommt man über den göttlich-teuflischen Marquis zu dem großartigsten seiner Werke. Du siehst, auch über den Tod hinaus liebe ich Worträtsel...
„Ja“, sagte ich, „du meinst damit, daß dich das instinktive Mißtrauen gegen jeden Ganoven auch dann nicht verläßt...“
Ich las weiter:
Ich umarme Dich liebevoll...
Es folgte eine verschnörkelte Unterschrift, von der man nur das G und das P entziffern konnte. Darunter ein Postskriptum: Auch wenn es zynisch klingen mag...
Ich wendete das Blatt.
... ist es beruhigend zu
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