120, rue de la Gare
wissen, daß dieser Brief für Dich eine Erlösung sein wird.
Es umarmt Dich zum letzten Mal, mein geliebtes Kind,
Dein Vater,
von dem nie mehr etwas Unangenehmes zu erwarten ist.
Faroux zupfte an seinem Schnurrbart.
„Die Tochter von Jo Tour Eiffel“, murmelte er.
„Ja, könnte man meinen. Ihr Name war es also, den er auf dem Sterbebett geflüstert hat.“
„Ich freue mich, feststellen zu können, daß damit Ihre Sekretärin aus dem Schneider ist.“
„Das freut mich auch. Werd mir wohl eine ganze Ladung von Entschuldigungen ausdenken müssen.“
„Ihnen wird schon was einfallen. Einem wie Ihnen fällt immer was ein... Welche Überraschung hatte Colomer dieser Hélène wohl bereiten wollen? Seinen gewaltsamen Tod?“
„Wohl kaum. Wir können das Mädchen ja gleich fragen. Geben Sie mir doch mal den Umschlag, in dem der Brief steckte.“
Es war ein billiger gelber Umschlag. Die Adresse war weder von derselben Hand noch mit derselben Tinte wie das „Testament“ geschrieben. Ich sah mir den Brief durch die Lupe an. Dann faltete ich ihn und steckte ihn zurück in den Umschlag.
„Ist der Mörder auf einem Auge blind?“ fragte Faroux ironisch.
„Nein, aber Linkshänder. Bemerken Sie nichts Außergewöhnliches?“
„Woran?“
„An der Art, wie der Brief gefaltet ist. Er wurde zuerst für einen länglichen Umschlag und dann noch einmal in der Mitte gefaltet, so daß er jetzt in diesem normalen Umschlag regelrecht ,schwimmt“. Seltsam, seltsam!“
„Hören Sie auf, George Parry zu imitieren und in Rätseln zu sprechen. Für solche Albernheiten hab ich keine Zeit. Heraus mit der Sprache!“
„Der Brief befand sich zuerst in einem länglichen Umschlag, der mit rotem Wachs versiegelt war. Hier, der dunkle Fleck auf dem Blatt! Etwas Wachs muß sich wohl durch den Umschlag gedrückt haben. Sie können den Fleck nach allen Regeln der Polizeikunst untersuchen lassen. Ich geb Ihnen einen aus, wenn das kein Wachs ist! Der treue Freund, von dem Parry spricht, war nämlich gar nicht so treu. Er wußte, wie wichtig der Brief war, und hat die Sechsmonatsfrist gar nicht erst abgewartet. Hat das Siegel erbrochen und das Testament mit der verschlüsselten Adresse gelesen. Er beschließt, sich das »Nötige für ein sorgloses Leben“ an Land zu ziehen. Nach dem, was wir über Parrys Fischzüge wissen, muß es sich um ein hübsches Sümmchen handeln. Der ,treue Freund“ macht sich sofort daran, das Worträtsel zu lösen. Aber für einen Nichteingeweihten ist es praktisch nicht lösbar. Bob ist es nur durch ein zufälliges Zusammentreffen glücklicher Umstände gelungen. Also besucht der Schatzsucher seinen Freund Parry und bittet ihn höflich um Aufklärung, im heimligen Schein eines Kaminfeuers. Aber Jo Tour Eiffel läßt sich nicht... äh... erweichen. Der treue Freund muß mit leeren Händen wieder abziehen. Der alte Umschlag ist verlorengegangen oder unbenutzbar geworden. Deswegen steckt der Gangster den Brief in irgendeinen billigen und schickt ihn Hélène... Hélène Parmentier.“
„Dann kennt er also Ihrer Meinung nach Adresse und Identität des Mädchens?“
„Klar! Er spekuliert darauf, daß Parrys Tochter ihn zu dem Schatz führen wird...“
„...was sie dann auch prompt getan hat“, ergänzte Faroux. „Der treue Freund bedankt sich bei dem Mädchen mit einer Kugel. Aber wie erklären Sie es sich, daß Colomer den verschlüsselten Text kopieren konnte?“
„Hélène Parmentier wird ihn wohl kaum gebeten haben, sich an dem Ratespiel zu beteiligen.“
„Das brauchte sie auch nicht. Der Brief ihres Vaters läßt darauf schließen, daß sie wußte, um welches Haus es sich handelte... Aber...“ Der Inspektor stutzte. „...Aber mehr auch nicht! Sie wußte nicht, wo genau im Haus sich das Vermögen befand.“
Ich gab keine Antwort, sondern untersuchte den Brief noch einmal. Oben links bemerkte ich zwei dünne Einstiche.
„Hier war noch etwas angeheftet“, stellte ich fest. „Ein Plan oder so was Ähnliches...“
„Hm... „ machte Faroux. „Dann ist dem ,treuen Freund“ die Suche sehr erleichtert worden.“
„Nein, er hat nie einen genauen Plan gesehen! Das Postskriptum ist jüngeren Datums als der übrige Brief. Parry hat noch etwas hinzugefügt, um sich für immer zu verabschieden. Dafür mußte er die Rückseite benutzen. Das angeheftete Papierstück hat ihn beim Schreiben gehindert, er hat es abgemacht und hinterher vergessen, es wieder anzuheften.“
„Das sind alles nur
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