120, rue de la Gare
Inspektor Faroux holt nämlich gerade Auskünfte über Sie ein.“
„Er vertrödelt nur seine Zeit.“
„Um so besser. Eine letzte Frage noch, Doktor: Sie sind heute abend nicht ausgegangen, oder?“
„Ich weiß wirklich nicht, warum ich Ihnen antworte... Nein, ich bin heute abend nicht ausgegangen.“
Nach diesem Schlagabtausch verlief unser Gespräch nichtssagend. So blieb es auch, bis der Inspektor zurückkam. Faroux sah ziemlich aufgeregt aus, so daß sich die Stirn von Hubert Dorcières wieder in Falten legte. Doch mein Freund von der Kripo war die Liebenswürdigkeit in Person. Da ich keinen zweiten in Paris kannte, der sich so schlecht verstellen konnte wie Faroux, schloß ich daraus, daß das Führungszeugnis des Chirurgen hervorragend ausgefallen war.
„Können wir zu dem Mädchen?“ fragte Faroux.
„Ich seh mal nach.“
Dorcières ging hinaus.
„Und? Werden Sie ihm Handschellen anlegen?“ erkundigte ich mich.
Faroux zuckte die Achseln.
„Der Mann ist ein richtiger Tugendbold“, sagte er. „Über jeden Verdacht erhaben. Sie hatten recht: Er hat nur blöd reagiert. Aber ich hab was anderes, Burma. In Maison-Blanche ist ein Mann überfahren worden... von einem Wagen, der ohne Licht während des Alarms durch die Nacht gerast ist. Der Mann ist kurz darauf gefunden worden, tot. Vielleicht durch den Unfall, vielleicht aber auch durch die beiden Kugeln, die er sich gefangen hatte. Das wird die Autopsie klären. Die Unfallstelle ist nicht weit von der Rue de la Gare entfernt, wie Sie wissen. Deswegen hab ich mir die Leiche angesehen. Es handelt sich um einen gewissen Gustave Bonnet, wohnhaft in Lyon. Merkwürdig, was? Sein Gesicht hab ich vorher noch nie gesehen. Dürfte ich Sie bitten... äh... Das Gesicht war mir nämlich völlig unbekannt... Vielleicht sehen Sie’s sich mal an...“
„Schwören Sie mir, daß Ihre Bitte kein Vorwand ist, um das Mädchen ganz alleine zu verhören?“
Der Inspektor wies diese Unterstellung entrüstet zurück. „Gut“, sagte ich. „Dann fahre ich in die Morgue... mit Ihrem Wagen, wenn Sie erlauben.“
Als ich wieder zurückkam, plauderte Faroux freundschaftlich mit Dorcières.
„Und?“ fragte er, ohne mir Zeit zu lassen, meinen Hut abzulegen.
„Hab die Leiche gesehen. Sieht wirklich beschissen aus „Haben Sie den Mann schon mal gesehen?“
„Nein“, antwortete ich.
Das war eine Lüge.
Ein Butler verschwindet
Hélène Parry lag in einem weißen Zimmer in einem weißen Bett. Sie atmete schwach. Ihr Gesicht war noch weißer als die Laken. Die rotbraunen Haare waren der einzige Farbfleck.
Vorsichtig berührte ich ihre Hand. Sie öffnete langsam ihre schönen, melancholischen Augen und sah mich erstaunt an. Aus meinem Repertoire von Stimmlagen wählte ich die sanfteste aus.
„Guten Abend, Mademoiselle Parry“, begann ich. „Tut mir leid, daß wir Sie belästigen müssen. Wir brauchen dringend Ihre Aussage. Sie verstehen... Es geht darum, Sie zu rächen... und Bob. Sie haben doch Monsieur Colomer gekannt, oder? Bestimmt hat er Ihnen gegenüber meinen Namen erwähnt: Nestor Burma, sein Chef.“
Das Mädchen schloß die Augen, was wohl „ja“ heißen sollte. „Sie waren auf dem Bahnhof“, sagte sie leise.
„Ja. Und Sie auch. Warum haben Sie Ihre Pistole gezogen?“
„Was ist das denn wieder für ‘ne Geschichte?“ polterte Faroux los. „Das haben Sie mir gar nicht erzählt!“
„Schnauze, Florimond!“ zischte ich meinem Freund zu. „Die Kleine hat nicht unbegrenzt Puste... Also, warum hatten Sie eine Pistole in der Hand?“
„Ein Reflex. Ich hab auf Bob gewartet. Er wußte, daß ich in der Nacht zurückkommen würde. Hatte mir telegrafiert, auf dem Bahnsteig zu bleiben, er habe eine Überraschung für mich. Ich hörte, wie Sie seinen Namen riefen. Er stürzte an Ihr Abteilfenster und... Oh, mein Gott!“
Dorcières sprang buchstäblich an ihr Bett und beugte sich über sie. Seine Hände zitterten, seine Nasenflügel bebten.
„Sie ist wirklich nicht in der Verfassung für ein Verhör“, sagte er seltsam entschlossen.
Das war mir durchaus klar, aber ich hatte noch zwei wichtige Fragen auf Lager. Der Rest konnte warten.
„Halten Sie bitte noch einen Augenblick durch, Mademoiselle Parry. Sie geben doch zu, Hélène Parry zu sein, die Tochter von Georges Parry?“
„Ja, ich geb’s zu.“
„Schön. Sie sind für die Verbrechen Ihres Vaters nicht verantwortlich. Und jetzt hören Sie mir gut zu und antworten Sie bitte in
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