120 - Sterben in Berlin
sollte: an ihren Vater, an ihre Mutter – beides nur noch schemenhafte Gestalten ohne Gesichter in ihrer Erinnerung. Gedanken an den Wald, in dem ihr Vater sie aussetzte, an ihre neuen Geschwister dort: neun schwarze Wildkatzen. Und an die zehnte, größere, die sie säugte, die sie rettete. Das war ihre Mutter gewesen, als sie so alt war wie Ann. Eine Wildkatze…
Weg mit der Erinnerung, weg mit den finsteren Gedanken.
Nicht einmal sich selbst gestattete sie, tiefer an ihr Geheimnis zu rühren.
Sie wandte sich wieder Mutter und Kind zu. Jetzt durfte die Kleine der Königin den Rücken waschen. In letzter Zeit fragte Miouu sich manchmal, ob das Mädchen so etwas wie das zweite Gesicht hatte. Die Sache mit Gertruud – hatte die Kleine neulich nicht davon geplappert, dass die Frau weggeht?
Vielleicht nur ein Zufall. Andererseits: Es war nicht das erste Mal, dass sie Dinge fantasierte, die später in irgendeiner Form eintrafen. Nun ja, wahrscheinlich hätte man das Geplapper auch ganz anders deuten können.
Die Kleine wrang einen Schwamm über dem hochgesteckten Haar ihrer Mutter aus. Sie kicherte. Ob sie ihren Vater vermisste? Schwer zu sagen. Ob es mühsam war, ein Kind ohne einen Mann aufzuziehen? Nein, dachte Miouu.
Männer sind lästig, Männer sind ja selbst wie Kinder. Dann hätte die Königin zwei Blagen am Hals. Andererseits: Dieser Maddrax – er war irgendwie anders; anders als die Menen in der Siedlung, anders als die Kerle im Palast, anders auch als die Raubeine im Wald und die Burschen in…
Ein Geräusch jenseits der Tür ließ sie aufhorchen. Etwas prallte dort dumpf auf dem Boden auf. Dann rief jemand ihren Namen. Sie blieb stehen. Noch einmal rief die Männerstimme draußen: »Miouu! Komm schnell!« Die Stimme eines der beiden Palastgardisten im großen Bad! Miouu runzelte die Stirn. Königin Jenny drehte sich nach ihr um, die Kleine sah sie aus großen Augen an. Sie kicherte nicht mehr.
Miouu ging zur Tür, stieß sie auf, betrat das große Bad.
»Was ist los…?«
Der Atem stockte ihr: Einer der beiden Wächter lag in seinem Blut neben dem Beckenrand. Das Schwert in seiner Brust hob und senkte sich rasch. Er starrte sie an wie ein Fiebernder. Seine Finger und Knie zuckten. »Was…?«
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr –Licht, das sich in blankem Eisen spiegelte, blankes Eisen, das die Luft zerschnitt. Miouu duckte sich, drehte sich einmal um sich selbst, riss das Schwert aus ihrer Rückenscheide. Sie brüllte, der Doyzdogger bellte.
Der Gardist – es war einer, den Bulldogg erst vor ein paar Tagen auf Empfehlung Johaans eingestellt hatte, ein Grauhaar namens Rotaa – riss den Schlüssel aus der Innenseite der Tür, drückte sie zu, steckte den Schlüssel wieder ins Schloss, drehte ihn um. Von der anderen Seite hörte Miouu den Doyzdogger gegen das Türblatt springen. Canada kläffte und knurrte.
Miouu funkelte Rotaa böse an. Das Schwert in beiden Händen, ging sie auf den Mann zu.
»Stirb, du Scheißkerl!«
Sie holte aus. Er ging in die Knie, blockte ihren Hieb mit seiner Kurzklinge ab, riss den Schlüssel aus dem Schloss und warf ihn ins trübe Wasser des Beckens. Miouu begriff überhaupt nichts.
Sein Kurzschwert in der Rechten, drückte der Palastgardist sich an der Wand entlang bis zur Eingangstür. Miouu sah, wie die Klinke sich bewegte. Auch diese Tür hatte er abgeschlossen. Jemand pochte von außen dagegen und brüllte:
»Aufmachen!«
»An wen hast du dich verkauft?«, zischte Miouu. Sie versuchte sich einen Reim auf das Verhalten des Mannes zu machen. »An wen?!«
Er antwortete nicht, lief zu seinem röchelnden Kameraden neben dem Becken. Was hatte er vor? Warum hatte er die Tür zum kleinen Bad abgeschlossen? Trachtete er am Ende gar nicht nach dem Leben der Königin? Trachtete er womöglich nach…
Die Einsicht überfiel sie wie ein Kälteschock. »Wer bezahlt dich dafür, du stinkender Taratzenarsch…?!«
Rotaa stemmte seine Ferse auf die Brust des Sterbenden, packte den Schwertknauf und riss ihn aus der durchbohrten Brust. Der Sterbende röchelte und stöhnte.
»Was willst du von mir?!«, brüllte Miouu. Als der Mann nicht antwortete, sie nur fixierte wie man einen Todfeind fixiert, sprang sie an den Beckenrand und ging auf ihn los. Er hob seine Klinge und fing ihren kraftvollen Hieb ab. Funken stieben, Metall klirrte, die Wucht ihres Schlages ließ ihn torkeln. Noch im Fallen warf er das zweite Schwert, das blutige, ins Becken.
Miouu hörte
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