120 - Sterben in Berlin
hörte, wie jemand die Tür hinter ihr zuschloss, und fuhr herum. Olaaf war verschwunden, zwei Männer versperrten den Weg zurück zur Tür. Gertruud erkannte zwei Begleiter des Braandburger Gesandten und Heerführers wieder.
»Was, bei Orguudoo…!«
Blitzschnell streifte ihr jemand von hinten eine Tiersehne über Stirn und Kinn.
»Nichts haben wir beide miteinander zu schaffen!«, flüsterte Osgaards Stimme nah an ihrem Ohr. »Nichts.«
Die Schlinge schnitt in die Haut ihres Halses, drosselte ihr die Luftröhre zu.
»Der Bastard, für den du spionierst, hat meine Heimat niederbrennen lassen…!«
Jedes Wort spie die hasserfüllte Stimme ihr einzeln ins Ohr.
Gertruud wollte schreien und konnte nicht einmal röcheln. Sie wollte um sich schlagen und konnte ihre Finger nicht daran hindern, nach der tödlichen Schlinge zu fassen, was völlig wirkungslos blieb, denn längst begrub ihr Fleisch die Sehne.
Irgendwann begann sie zu strampeln, zu zucken und zu beben. Die Augen quollen ihr aus den Höhlen, ihre Schließmuskeln versagten, und endlich erschlaffte sie.
Osgaard ließ sie los. Ihr Körper schlug auf dem Steinboden auf. »Schafft sie zusammen mit den Abfällen in den Wald.« Er rümpfte die Nase. »Und macht hier sauber…«
***
Beelinn, Anfang August 2520
Wie lange es dauerte, bis es endlich dunkel wurde! Immer wieder erhob sich Naura vom Bett, lief zum Fenster und spähte hinaus. Im Osten war der Himmel schon fast schwarz, im Westen verwandelte sich sein tiefes Blau allmählich in dunkles Grau. Der Abendstern strahlte im Süden.
Sie ging zurück zum Bett, blieb aber vor dem hohen Spiegel an der Wand neben der Tür stehen. Aufmerksam betrachtete sie ihr Spiegelbild. Sie trug enganliegende schwarze Hosenkleider aus sehr feinem und gefetteten Wildleder und ein knapp geschnittenes Hemd aus dem gleichen Material. Das schwarze Haar fiel ihr seidig auf die Schultern, und der Schein der Öllampen spiegelte sich darin wie in einer Lache frischen Teers.
Ihre Augen blickten ernst, doch ein Lächeln spielte um ihre schmalen Lippen. Nicht mehr lange, und die Nacht würde diese Siedlung in ihr schwarzes Kleid hüllen. Eine wichtige Nacht, eine gute Nacht – Naura zweifelte nicht daran. Johaan hatte alles gewissenhaft vorbereitet.
Draußen quietschte das Gartentor, Naura lief zum Fenster.
Ein Junge von höchstens vierzehn oder fünfzehn Jahren schritt über den Kieselweg zur Haustür. Er hatte langes lockiges Haar, und sein nackter Oberkörper wirkte knochig und dürr.
Naura erinnerte sich an ihn – es war der Halbwüchsige, der an ihrem ersten Tag in Beelinn und im Königspalast oben auf der Empore gesessen hatte. Er stieg die Vortreppe hinauf und verschwand aus Nauras Blickfeld. Sie hörte schwere Schläge gegen die Haustür, sie hörte Johaans Schritte unten im Erdgeschoss, und sie hörte, wie der Meister die Tür aufzog.
Das Getuschel der beiden drang aus dem Halbdunkel zu ihr hinauf, sie konnte aber kein Wort verstehen. Bald sprang der Junge wieder die Treppe hinunter, lief über den Kieselweg und schloss das Tor hinter sich.
»Johaan?« Naura ging zur Tür und zog sie auf. »Was wollte der Bursche, Meisterchen?«
»Eine Botschaft«, kam es dumpf von unten. »Eine Botschaft aus Pottsdam.«
»Oh! Komm hoch, zeig sie mir!«
»Sie ist geheim.«
Johaans Schritte stapften schon über die ersten Stufen.
»Natürlich ist sie geheim.« Naura trat wieder vor den Spiegel. In ihm sah sie das Fenster und dahinter den dunklen Himmel. Die Nacht, endlich brach sie an. Sie strich sich das Haar hinter die Ohren, setzte ihren Stirnreif auf und nahm die Kappe vom Waschtisch. Ebenfalls schwarzes Wildleder, ebenfalls gefettet.
Johaans Schritte auf der Treppe kamen näher. Schleppend und schwer; er war müde, der Arme. Den ganzen Tag im Wald, den ganzen Tag Blaubeeren pflücken, den ganzen Tag die Göre.
Naura hielt die Mütze mit den Zähnen – schneeweiße Zähne! –, während ihre flinken Finger ihr Haar zu einem Zopf flochten. Sie zog den Zopf vom Nacken aus über ihren Scheitel und stülpte sich die Lederkappe über den Kopf. Sie bedeckte ihre Brauen und Ohren. Sorgfältig steckte sie jede einzelne Haarsträhne unter das Leder.
Johaan drückte die Tür auf. Auf der Schwelle blieb er stehen und reichte ihr ein zusammengerolltes Stück Papier.
»Mein treuer Meister«, lächelte Naura. Sie nahm ihm die Botschaft ab und überflog sie. »Nicht von Meisterchen Siimn?«
»Nein.« Johaan schüttelte langsam den
Weitere Kostenlose Bücher