1208 - Leichenwelten
die Wahrheit sagen sollte. Künstler sind oft empfindlich.
»Trauen Sie sich nicht?«
»Nun ja, ich überlege noch.«
»Geben Sie einfach Ihrem Gefühl nach. Sie sind schließlich keine Kunstkritikerin. Oder doch?«
»Nein, nein.«
»Sehr schön. Also eine normale Besucherin, die sich einzig und allein für meine Bilder interessiert?«
»So ist es!«
Er drückte die Krempe vorn etwas höher, sodass Jane jetzt seine Augen sehen konnte. Sie waren dunkel, aber sie besaßen auch einen faszinierenden Glanz. Bei einem Vergleich wurde sie an ölige Mandeln erinnert. Jane wusste nicht genau, wie sie den Blick einstufen sollte. Er bereitete ihr auf der anderen Seite auch Unbehagen.
»Ich bin überrascht, Madam.«
»Warum?«
»Nun ja, ich erlebe selten, dass sich Frauen meine Ausstellung ansehen. Die meisten sind geschockt. Sie werden von den Bildern nicht eben angezogen.«
»Das mag stimmen. Ich bin auf Grund der Presseveröffentlichungen aufmerksam geworden.«
»Ah, so ist das. Das höre ich oft.« Er lächelte wieder. »Ich gestehe, dass ich Sie bereits seit einer geraumen Weile beobachtet hatte, und sie schienen mir von einem Bild besonders beeindruckt zu sein. Oder irre ich mich da?«
Dass er so schnell zum Thema kommen würde, damit hatte Jane nicht gerechnet. Die Gedanken flogen durch ihren Kopf hin und her. Sie wusste nicht, wie sie sie einsortieren und was sie ihm alles sagen sollte.
Unter dem zwingenden Blick seiner Augen rang sich Jane endlich zu einer Antwort durch und blieb bei der Wahrheit.
»Das Bild hat mich in der Tat fasziniert.«
»Gratuliere.«
»Warum?«
»Auch ich halte es für eines meiner besten.«
»Es ist sehr ungewöhnlich und so echt.«
»Das sind meine Bilder alle. Aber hier habe ich die Echtheit besonders gut getroffen, wenn ich das so sagen darf, wobei ich mich keinesfalls selbst loben möchte.«
»Das habe ich so auch nicht gesehen. Wo Sie Recht haben, da haben Sie Recht. Sie als Künstler müssen es besonders wissen. Die Aufnahme scheint mir gar nicht mal so alt zu sein.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Gefühl.«
»Ach ja…?«
»Das ist eben so.«
Er schaute auf das Bild, dann wieder auf Jane und sagte sehr treffend:
»Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie mit mir über das Foto reden möchten.«
Vorsicht! Bei Jane schlug eine innere Alarmglocke an. Dieser Mann war gefährlich. Er war in der Lage, Menschen einzuschätzen und sie für sich zu gewinnen.
»Warum sagen Sie nichts?«
»Ich wundere mich nur. Ein Mann wie Sie kümmert sich normalerweise nicht um eine Besucherin, die hier vor einem Ihrer Bilder steht. Das passiert sicherlich oft…«
»Ja, da gebe ich Ihnen Recht. Das passiert oft. Aber Sie sind anders. Ich habe Sie beobachtet. Für Sie muss das Bild etwas Besonderes ausstrahlen, sonst hätten Sie sich nicht so intensiv darum gekümmert. Ich habe Ihr Verhalten als erschreckt und nachdenklich empfunden. Da ich als Künstler ein neugieriger Mensch bin, möchte ich der Sache gern auf den Grund gehen.«
»Es ist schon ein wenig fremd.«
»Nicht nur ein wenig, Miss…«
»Ich heiße Jane Collins.«
»Ein Name, der zu Ihnen passt. Okay, wir sollten etwas länger über das Bild sprechen. Dabei meine ich natürlich die Person. Aber nicht hier, sondern bei mir.«
»Bei Ihnen zu Hause? Oder in einem Hotel?«
»Nein, nein, keine Sorge. Ich habe hier einen kleinen Raum zur Verfügung gestellt bekommen, in dem ich mich aufhalte, nachdenke oder auch einen Kaffee trinke. Der letzte ist noch frisch. Wir könnten ein wenig plaudern.«
Jane Collins war auf der einen Seite eine sehr vorsichtige Person. Aber sie war auch jemand, der von Berufs wegen neugierig war und sich nicht so leicht die Butter vom Brot nehmen ließ. In dieser Ausstellungshalle fühlte sie sich relativ sicher. Außerdem wollte sie herausfinden, wer die Frau auf dem Foto war und warum sie diese Veränderung erlebt hatte.
»Es geschieht nicht oft, dass ich jemand dazu einlade, mit mir über meine Bilder zu sprechen. Sie sind eine der wenigen Ausnahmen und sollten mir den Gefallen tun.«
»Und was ist, wenn ich von der Presse bin?«
Da lachte Goya und schüttelte den Kopf. »Nein, Jane, Sie sind nicht von der Presse.«
»Was macht Sie denn so sicher?«
»Mein Blick. Gepaart mit meiner Menschenkenntnis. Ich bin mir da ganz sicher.«
»Dann haben Sie Recht.«
Aristide Goya deutete mit einer einladenden Handbewegung den Weg an. Es war der gleiche, den alle Besucher nahmen, um auch in den fünften
Weitere Kostenlose Bücher