1208 - Leichenwelten
Goya amüsiert und blickte auf seine langen und schlanken Finger.
»Nein, das ist nicht alles.«
»Was stört Sie denn noch?«
Jane glaubte, einen falschen oder lauernden Unterton gehört zu haben.
Sie ging darauf nicht ein und hob die Schultern wie jemand, der unsicher ist. »Ich weiß nicht, ob man wirklich von stören reden kann. Ich bekam nur ein anderes Gefühl, als ich die Frau betrachtete. Sie haben nur Bilder von Toten ausgestellt, Aristide.«
»So konnte man es lesen.«
»Aber diese Frau machte auf mich den Eindruck, nicht tot zu sein.«
»Ach«, flüsterte der Fotograf. »Das müssen Sie mir genauer erklären.«
»Ganz einfach. Ich hatte den Eindruck, als hätten Sie das Bild eines noch lebendigen Menschen geschossen, der allerdings in der Sekunde der Aufnahme vor Schreck erstarrt war. Als hätte er etwas unwahrscheinlich Schlimmes gesehen, das sein Weltbild völlig durcheinander bringt. Jetzt wissen Sie, weshalb ich von dieser Aufnahme so fasziniert gewesen bin.«
Goya nickte. »Interessant, das ist wirklich ausgezeichnet.«
»Warum loben Sie mich so?«
»Will ich Ihnen sagen. Ich habe schon zahlreiche Besucher vor diesem Bild stehen gesehen. Ich habe auch mit einigen gesprochen, aber keinem ist das aufgefallen, was bei Ihnen der Fall ist. So etwas verdient schon ein Lob.«
Da war Jane skeptisch. Derartige Worte gefielen ihr nicht.
Diese Antwort war nicht ehrlich gemeint. Zudem glaubte sie, dass sein Blick lauernd geworden war. Wie bei einem Menschen, der auf etwas Bestimmtes wartet.
Dennoch blieb die Stimme ruhig, als der Künstler fragte: »Ist Ihnen denn noch etwas aufgefallen, worüber Sie gern mit mir reden möchten, Jane?«
Sie wiegte den Kopf. »Man könnte zum Beispiel die Umgebung ansprechen.«
»Ein fantastischer Sonnenuntergang, nicht wahr?« Beinahe geriet er ins Schwärmen.
»Den meine ich weniger. Ich denke eher an die beiden Totenköpfe auf den Stangen…«
»Das gehört dazu.«
»Wozu, bitte?«
»Zur Karibik.«
»Ah…«, staunte Jane und nickte. »Dann haben Sie die Aufnahme in der Karibik geschossen.«
»Der Kenner erkennt das.«
»Pardon, ich war noch nicht so oft dort, als dass ich es mit einem Blick erkannt hätte.«
»Geschenkt«, sagte Goya lächelnd. »Aber in diesem vierten Raum hängen fast nur Fotos, die ich dort geschossen habe. Mich interessierten eben die Toten. Man geht mit ihnen ganz anders um als hier. Auch in Afrika bin ich fündig geworden. Bei einem Bild habe ich ein wunderbares Ritual aufgefangen. Da wird die Leiche nach einem Jahr im Beisein seiner Verwandten und Freunde wieder ausgegraben, um ihr zu zeigen, wer noch alles da ist und wie sich die Welt seit dem Ableben verändert hat. Auch das habe ich festhalten können. Wahnsinnig starke Szenen, kann ich Ihnen sagen.«
Janes Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln. »Darf ich fragen, wie die Leiche dann aussah?«
Er winkte ab. »Nichts für schwache Nerven. Aber das wissen die Besucher der Ausstellung hier.«
Jane hob ihre Tasse an und trank wieder einen Schluck. Der Kaffee war etwas abgekühlt, was ihr sehr entgegenkam, auch wenn er jetzt noch bitterer schmeckte. »Trotzdem lässt mich einfach dieses eine Bild nicht los«, sagte sie nach dem zweiten Schluck und stellte die Tasse wieder zurück. Sie krauste dabei die Stirn und hob den Blick an, sodass sie den Künstler anschauen konnte.
»Warum denn nicht?«
»Es ist seltsam, Aristide. Es kann auch sein, dass Sie mich jetzt auslachen, aber ich kann mir vorstellen, dass die Person auf dem Foto nicht tot ist.«
Goya sagte nichts. Er lachte nicht, er sprang nicht von seinem Stuhl hoch, er trank auch keinen Kaffee. Er musste zunächst nachdenken und sagte nach einer Weile: »Meine Güte, Jane, wie können Sie das sagen? Sie kennen doch den Tenor meiner Ausstellung. Hier ist der Tod in allen Varianten zu sehen. Es sind keine lebenden Personen dabei, auch wenn sie hin und wieder so aussehen. Sie wissen selbst, dass man Menschen entsprechend schminken kann, dass sie so aussehen, als wären sie noch am Leben. Ich gebe zu, dass dies auf einigen meiner Fotografien der Fall ist, aber sonst nichts.«
»Schade.«
»Warum ist es schade?«
»Ich dachte wirklich, mich nicht geirrt zu haben. Gerade auch, was die Karibik angeht.«
»Bitte, Jane«, sagte er wieder so übertrieben. »Jetzt stellen Sie mich vor ein Rätsel.«
Sie bewegte ihre Hände. »Ich habe inzwischen ein wenig weiter gedacht.«
»Gut. Wie sieht das aus?«
Jane lächelte
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