1220 - Gefangen im Hexenloch
entwickelte, um den Beschreibungen der Waldhexen gerecht zu werden.
Elvira hatte Spaß. Jeder hörte ihr Kichern, als sie ihrem Triumph freie Lauf ließ. »Bald… bald…«, flüsterte sie, »bald ist es soweit. Ihr werdet nicht entwischen können. Meine Freunde sind bereit. Sie sind wild auf euer warmes Fleisch und auch auf das dampfende Blut. So war ich immer, so werde ich immer sei.«
»Scheiße!«, keuchte Boris der Person entgegen. Die letzten Worte hatten ihn aufgeputscht. »Was willst du denn? Was haben wir dir getan, verflucht noch mal? Und wo sind die Kinder?«
»In der Nähe…«
»Ich will sie sehen.«
»Warum? Sie gehören jetzt mir«, erklärte Elvira kichernd.
»Ja, mir ganz allein.«
»Was hast du mit ihnen vor?« Boris Helm rang sich die Worte ab. Er konnte sie kaum sprechen.
»Ich werde sie einfach nur behalten, denn ich liebe Kinder, verstehst du?«
»Nein, du wirst…«, seine Stimme überschlug sich. Er schnappte nach Luft, musste husten und krümmte sich in den Fesseln. Diese Geste spiegelte seine ganze Hilflosigkeit wider.
Aber die seiner Frau und Harry ebenfalls.
Elvira sprach weiter. »Eure Zeit ist abgelaufen. Ihr werdet hier in der Vergangenheit euer Leben verlieren. Ich lasse euch nicht mehr zurück in eure Zeit. Es ist aus mit euch. Meine Freunde brauchen Futter, versteht ihr? Sie sind schon ganz unruhig geworden. Sie haben lange nichts mehr zu beißen gehabt…«
»Aufhören!«, flüsterte Ute Helm. »Bitte, hör auf. Ich… ich… kann es nicht mehr. Nein, das ist unmöglich. Ich will es nicht hören. Ich kann es nicht hören, verflucht noch mal! Meine Kinder sollen nicht sterben, und ich will es auch nicht…« Sie verschluckte sich, denn die Worte hatten sie viel Kraft gekostet. Ute Helm hatte am meisten gelitten. Sie war die Mutter. Es waren ihre Kinder.
»Bitte, Ute«, flüsterte Boris und versuchte, ihr Trost zuzusprechen. »Du musst stark sein. Hört sich blöd an, ich weiß. Aber Harry hat Recht. Wir leben noch. Und solange wir leben, ist die Chance da. Daran glaube ich ganz fest.«
Ute Helm nicht. Sie flüsterte weiter ihr Leid vor sich hin.
Harry Stahl hörte nicht hin, denn er konzentrierte sich auf das Gesicht der Hexe hinter dem kleinen Ausschnitt.
Ja, es hatte eine Veränderung gegeben. Es war noch abweisender und bösartiger geworden. Als hätte sie all ihre Untuge nden hervorgeholt, damit sie sich in diesem alt und grau gewordenen Gesicht und auch in den Augen abzeichneten.
»Ich weiß es, Helm. Ich weiß es genau. Du hast Hoffnung. So etwas sehe ich dir an. Aber irre dich nicht. Diese Hoffnung kannst du vergessen. Von Anfang an. Es ist aus für dich, deine Frau und auch für deine Kinder. Obwohl ich mit ihnen noch etwas vorhabe. Sie dem Teufel zu versprechen, ist etwas Wunderbares.«
»Er wird dich holen, Elvira!«, flüsterte Harry ihr zu. »Er wird dich holen und in seinem Höllenfeuer verbrennen.«
Sie lachte hart und mehrmals hintereinander auf. »Glaubst du denn, dass ich das Feuer der Hölle fürchte, Harry? Glaubst du das wirklich?«
Nein, er glaubte es nicht, aber er gab auch keine Antwort, denn sein Gehör funktionierte noch ausgezeichnet. Und damit hatte er eine Nachricht empfangen.
Es war ein Schuss gewesen.
Nicht der Knall eines Gewehres, sondern der einer Pistole.
Der Wald verzerrte die Echos, aber Harry Stahl betete innerlich, dass von einer Beretta geschossen worden war.
Auch die Herrin des Hexenlochs spitzte die Ohren. Harry war nicht mehr interessant für sie. Sie drehte den Kopf in die Richtung, aus der der Schuss aufgeklungen war. Genau dort lag auch ihre Hütte.
Stahl sagte nichts. Er wartete die Reaktion der Hexe ab, die wie erstarrt wirkte. Erst nach ein paar Sekunden ließ sie die Querstäbe los und nickte Harry zu.
»Es ist jemand gekommen. Man hat die Grenze überschrit ten. Da war eine Person zu neugierig.« Sie kicherte, und es hörte sich wirklich hexenhaft an. »Meine Freunde werden sich freuen…« Mit diesen Worten zog sie sich zurück.
Oder auch nicht!, dachte Harry und hoffte, dass es der Klang einer Beretta gewesen war…
***
Elvira hatte mir erklärt, was sie vorhatte, und wunderte sich über meine Reaktion. Ich hätte ihrer Meinung nach wohl Angst zeigen müssen, aber das war nicht der Fall. Ich blieb gelassen und ging noch einen Schritt nach vorn.
»Hast du nicht gehö rt, John? Ich werde dich meinen Wildschweinen zum Fraß vorwerfen.«
»Ja, ja«, erwiderte ich gelassen. »Ich habe alles gehört.
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