1220 - Gefangen im Hexenloch
in seinen Omega steigen wollte, hörte er das flatternde Geräusch. Er schreckte zusammen, duckte sich und schaute in die Höhe. Über seinen Kopf und auch über das Wagendach hinweg war ein dunkler Vogel gehuscht, der sich aus irgendeinem Versteck im Baum gelöst hatte. Mit schnellen Schwingenschlägen verschwand er im Dämmerschein des Waldes.
Auch eine Warnung!, dachte Harry und setzte sich wieder hinter das Le nkrad. Er hatte die Scheiben nach unten fahren lassen, sodass Durchzug entstanden war. Die Luft war etwas kühler geworden, zudem feuchter, denn in der Tiefe gab es nicht nur das Hexenloch, sondern auch einen Bach, dessen Wasser durch ein schmales Bett tobte.
Harry ließ den Motor an. Er schloss auch jetzt die Scheiben nicht, sodass die würziger und feuchter gewordene Luft seine Nase umwehte und er das Gefühl hatte, gar nicht schnell genug einatmen zu können, nach all der Hitze, die der Tag gebracht hatte.
Der Omega war ein Sechszylinder. Sein Motor schnurrte so leise wie eine zufriedene Katze. Es gab zwar Asphalt auf den Serpentinen, doch der war an vielen Stellen gerissen. Immer wieder rollte der Wagen in kleinere Schlaglöcher hinein oder fuhr über Bodenwellen, sodass Harry durchgeschüttelt wurde.
Es ging ausschließlich bergab!
Je tiefer er kam, desto langsamer musste er fahren. Manchmal verengte sich der Weg derart stark, dass die Zweige der Büsche an den Seiten des Opels kratzten wie Geisterfinger.
Harry hatte den Eindruck, in eine geheimnisvolle Märchenwelt einzufahren. In einen Geisterwald, der von zahlreichen Lebewesen bevölkert wurde, die es sonst nur in den Geschichten gab, die man den Kindern erzählte. Hier konnte er sich Trolle und Feen gut vorstellen. Waldgespenster und böse Hexen. Aber auch Kinder, die sich verlaufen hatten und von der Bösen Frau verfolgt wurden.
Als Stahl dieser Gedanke in den Sinn kam, dachte er wieder an die Kinder der Familie Helm, und er presste die Lippen zusammen, und er atmete scharf ein und aus.
Über Stock und Stein führte der Weg. Die Bäume wuchsen dicht zusammen. Rechts von ihm drang das Rauschen des Bachs durch das offene Fenster. Er war nicht zu sehen, weil er sich seinen Weg über den Grund des Hexenlochs bahnte.
Das Licht war jetzt nur noch ein Teppich aus hellen Flecken, die sich in der Umgebung verteilten. Hin und wieder huschte es über die Karosserie des Omegas hinweg und tupfte auch gegen die Scheibe, von der es allerdings sehr schnell wieder verschwand.
Kurve auf Kur ve wurde von Harry durchfahren. Er fragte sich, was geschehen würde, wenn hier Gegenverkehr herrschte, denn Plätze zum Ausweichen gab es kaum.
Aber es existierten auch Häuser. Mal erschienen zwei, drei alte Holzbauten an der rechten Seite des Weges. Dort beulte sich das Gelände zumeist aus. Zu den Häusern führten schmale Wege hin, und sie sahen nicht eben unbewohnt aus.
Menschen entdeckte er trotzdem nicht. Nur alte Autos, die vor den Bauten parkten. Kein Mensch saß vor den Häusern auf einer Bank und genoss den Duft der Blumen, die in großen Kästen vor den Fenstern standen.
Wenn er sich nicht zu sehr täuschte, hatte er den Grund des Tals bereits erreicht. Aber der Weg führte weiter, und er würde an der anderen Seite wieder in die Höhe führen, um dort die B 500 erneut zu erreichen.
An der linken Seite hatten sich die starken Finger des Wurzelwerks in die Felsen gekrallt. Harry sah dicke und mit grünem Moos bewachsene Stämme. Die Bäume wuchsen schräg und streckten ihre mächtigen Arme so vor, dass sie über der Straße und dem Auto schwebten.
Harry erlebte nicht, dass jemand das Haus verließ. Es konnte sein, dass man ihn beobachtete, aber so, dass er nichts sah. Er fragte sich natürlich, was die Menschen, die hier wohnten, wussten oder was nicht. Möglicherweise mehr, aber das behielten sie dann für sich.
Er wollte auch nicht aussteigen und klingeln. Nur keinen weiteren Verdacht erregen, und so startete er wieder und ließ den Omega anrollen.
Da er sich auf der Talsohle befand, musste er in gleicher Höhe mit der Mühle sein. Die Umgebung gestattete ihm zwar keinen weiten Ausblick, aber er reichte aus, um erkennen zu können, dass der Weg nicht mehr tiefer führte.
Der Grund war erreicht, und in ein paar Minuten würde er auch an seinem Ziel sein.
Der Opel rollte wieder an. Noch immer strömte die Luft durch die beiden offenen Seitenfenster. Der Geruch war hier unten noch intensiver geworden. Feuchte und Würze vermischten sich miteinander.
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