1221 - Geschäft mit der Angst
kleiner Junge habe ich immer Angst vor ihnen gehabt. Das hat sich später verstärkt, und jetzt sind sie mir so nahe wie nur irgend jemand nahe sein kann. Du musst dich endlich daran gewöhnen, dass ich nicht mehr ohne Ratten lebe.«
»Was wollen Sie von dir?«
»Mich fressen.«
»Ach…«
»Ja.« Er nickte sehr ernst. »Sie sind hungrig. Ich hab nur hungrige Ratten erlebt.«
»Woher kommen Sie denn, wenn sie so hungrig sind? Bisher habe ich immer geglaubt, dass sie in unserer Welt genug Nahrung finden, um sich dick und fett zu fressen. Da brauchen sie keine Menschen anzugreifen, wenn, dann nur in Notfällen und wenn man sie in die Enge treibt. Du hast die Behandlung durchgemacht, damit du von deiner Rattenphobie erlöst bist. Mir scheint, dass es schlimmer geworden ist.«
»Sie sind mein Schicksal. Niemand kann seinem Schicksal entgehen. Sie verfolgen mich«, flüsterte er und verdrehte dabei die Augen, als wollte er ein bestimmtes Ziel suchen. »Sie verlassen die Welt der Angst. Ja, das ist so. Sie fliehen aus der Angstwelt hervor, um sich mir zu präsentieren.«
»Was redest du denn da von einer Angstwelt, Brian?«
»Es gibt sie.«
»Mag sein. Aber doch nur in deiner Fantasie. Die Angstwelt ist nicht zu fassen und…«
»O nein. Ich kenne sie. Sie ist genauso da wie die Welt, die du siehst. Ich weiß es. Ich war da, ich kenne den Weg, aber auch die anderen kennen ihn. Und sie kennen vor allen Dingen den Weg zurück. Du verstehst, nicht wahr?«
»Nein, nicht genau.«
»Den Weg von der Angstwelt in diese. Es ist alles so einfach, wenn man die Brücke kennt…«
Lisa Farrango blies die Wangen auf. Sie rollte auch mit den Augen und schüttelte leicht den Kopf. Allmählich gerieten die Dinge aus dem ruhigen Fahrwasser. Sie wusste nicht, welche Gegenargumente sie noch auffahren sollte, um Brian zu überzeugen. Er war mittlerweile soweit, dass er seine Welt in zwei Hälften teilte.
In einer lebte er. Da bewegte er sich, da arbeitete er. Das war die normale Welt, wie alle Mens chen sie kannten und sich darin mehr oder weniger wohl fühlten.
Dann gab es noch eine andere. Die unheimliche Welt. Die der Angst. Eine Welt, in die man auch nicht hineinschauen konnte, weil sie nicht für die Allgemeinheit sichtbar war und nur für das einzelne Individuum. Jeder schuf sich irgendwelche Welten oder Fluchtwege. Hinein in Träume, um den oft so miesen Alltag zu vergessen.
Aber Brians Welt war nicht gut. Sie wurde von den Wänden der Angst zusammengehalten, und das musste für den jeweils Einzelnen grauenhaft sein, denn die zweite Welt durfte nicht stärker werden als die erste und normale. Genau dies war bei Brian Watson leider der Fall. Und das trotz der Therapie, die bei ihm nichts gebracht hatte. Lisa Farrango glaubte sogar, dass der Zustand nach Brians Rückkehr schlimmer geworden war.
»Kannst du mir die Brücken zeigen, Brian?«
»Nein, das geht nicht.«
»Schade. Warum nicht?«
»Weil es meine Welt ist. Jeder hat seine eigene Angstwelt. Das weißt du doch, Lisa, so schlau bist du.«
Sie legte den Kopf schief und lächelte. »Danke für das Kompliment. Nur habe ich mich bisher mit dieser Angst noch nicht beschäftigt. Ich habe sie nicht hervorgeholt, und ich lebe in meiner Welt sehr gut, wie ich glaube.«
Brian hatte ihr nicht zugehört. Sein Blick war starr geworden, und auch die Haltung hatte sich verändert. Auf dem Stuhl sitzend hatte er sich leicht nach links gedreht, um einen Blick auf die Tür werfen zu können. Sie war nicht geschlossen. Lisa hatte sie bewusst offen gelassen, um Brian nicht das Gefühl der Enge zu vermitteln.
Sie ließ ihn in Ruhe und hielt ihn nur unter Beobachtung.
Dabei konnte sie sich nicht erklären, weshalb er so starr auf die offene Tür schaute, denn da war beim besten Willen nichts zu sehen.
Oder doch?
Nein, zu sehen nichts, aber sie hörte etwas.
Ein ungewöhnliches und zugleich auch unheimliches Geräusch. Zuerst glaubte Lisa, einem Irrtum erlegen zu sein, aber sie lauschte weiter. Die Gänsehaut kehrte von ganz allein zurück. Lisa merkte, dass sie verkrampfte.
Von gegenüber hörte sie Brian zischelnd atmen. Er gab keinen Kommentar ab, er schaute nur aus großen Augen auf die offen stehende Tür.
Nein, da war wirklich nichts zu sehen. Allerdings sehr genau zu hören.
Ein leises Trappeln, Trippeln oder Schleifen, das sich über den Boden hinwegzog und in die geräumige Küche hineinwehte. Ein Geräusch, das von zahlreichen Füßen hinterlassen wurde, die sich
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