1225 - Die Reliquie
dem linken Arm musste ich den Schädel halten.
Vor der Tür blieb Suko kurz stehen. Ich kannte das und hätte es an seiner Stelle auch nicht anders gemacht. Er brauchte eben diese Konzentration.
Dann öffnete Suko die Tür.
Es klappte. Das Wasser störte ihn nicht. Die Öffnung vergrößerte sich immer mehr, und ich sah ebenfalls das Wasser wie eine dicke grün gefärbte Wand auf der anderen Seite, die uns nicht entgegenstürzte, sondern von einer anderen Kraft zurückgehalten wurde.
Mit dem nächsten Schritt übertrat Suko nicht nur die Schwelle, er geriet auch in eine ganz andere Umgebung hinein, und ich sah, dass er vor meinen Augen in die Höhe stieg.
Es war fast unglaublich, und ich wollte nicht weiter darüber nachdenken. Ich wusste auch, dass er unter Wasser auf mich warten würde. Tatsächlich schwamm er nur ein kurzes Stück, dann drehte er sich und sank wieder schräg nach unten. Vor der offenen Tür wartete er.
Ich musste zwei Schritte gehen, um die Kirche zu verlassen.
Den ersten legte ich recht locker zurück. Vor dem zweiten zögerte ich etwas und musste mir den inneren Ruck geben.
Dann war auch dieses Hindernis überwunden.
Ich ging weiter, verließ die Kirche und…
Alles veränderte sich innerhalb eines Augenblicks. Plötzlich sah ich, dass Suko einfach weggerissen wurde. Gewaltige Wassermaßen spülten ihn irgendwo hin, und der Sichtkontakt war kaum verschwunden, als mich die Gewalt ebenfalls packte.
Ich wurde zum Glück in die Höhe gerissen und nicht in die Kirche hineingeschleudert. Ich schlug gegen die Wand, gewaltige Strömungen rissen an mir, und ich glaubte sogar, deren Gurgeln zu hören.
Dann fegte mich eine mörderische Gewalt in den See hinein, von dessen Grund riesige Schlammwolken aufstiegen wie der mächtige Rauch aus dem Krater eines Vulkans.
Ich, der Mensch, wurde zum Spielball anderer Kräfte und dachte noch, dass hinter mir eine Welt zusammengebrochen war…
***
Tessa Long starrte noch immer auf das Wasser und fragte sich, welches Geheimnis der See letztendlich verbarg. Auch sie wurde von der Neugierde angetrieben wie von einem inneren Motor, aber sie traute sich nicht, Caine eine diesbezügliche Frage zu stellen. Er stand neben ihr. Er berührte sie nicht mal.
Und trotzdem kam sich Tessa wie seine Gefangene vor. Das führte sie allein auf seine Anwesenheit zurück, die ihr unheimlich war.
Er behielt seinen Hut noch immer auf und starrte auf das Wasser. Er schien es hypnotisieren zu wollen. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt. Manchmal deutete er auch ein Kopfschütteln an, als wäre das alles gar nicht wahr, was hier passierte.
»Bitte«, flüsterte Tessa, »was ist das für ein Geheimnis, das der See verbirgt?«
»Es ist so alt.«
»Das bringt mich nicht weiter.«
»Es ist die alte Reliquie.«
»Wieso? Wovon sprichst du überhaupt?«
»Von der Frau.«
»Welcher Frau?«
Er winkte ab. »Lass es. Sie kam nicht von hier, sondern aus einem anderen Kontinent. Es ist schon zu lange her, aber es ist nicht vergessen. Man hat ihr sogar eine Kirche gebaut und ›zur reuigen Sünderin‹ genannt, denn sie hat ihre Sünden bereut…«
Tessa wusste zwar mehr, doch im Prinzip hatte sie kaum etwas erfahren, weil ihr der Name noch immer nicht gesagt worden war. Sie kannte auch nur den Begriff der reuigen Sünderin, und es brach aus ihr hervor: »Verdammt noch mal! Ich will endlich wissen, wie die Person geheißen hat. Ich habe ein Recht darauf, verstehst du? Alle, die hier wohnen, haben ein Recht darauf. Du bist nicht immer hier. Du ziehst in der Welt umher. Du kommst, wenn es dir passt, aber…«
Mit einer scharfen Bewegung drehte sich Ian Caine herum.
Allein diese Bewegung stoppte den Redefluss der Frau.
Plötzlich schaute Tessa genau in die Augen unter der Hutkrempe. Ihre Furcht steigerte sich noch mehr, denn dieser Blick war so kalt, so unmenschlich und zugleich auch so leblos.
»Niemand hat ein Recht, auch du nicht. Nur sehr wenige Auserwählte dürfen es erfahren. Sie war vor sehr langer Zeit eine wohlgelittene Person, denn man hat sie verehrt. Sie wurde von der Hure zur Heiligen, und sie hat selbst dafür gesorgt, dass man ihr damals die Kirche baute, in der sie ihr Grab fand. Menschen pilgerten zu ihr, um sich Rat zu holen. Man liebte sie, man wollte nicht, dass sie starb, aber auch sie lebte nicht ewig und…«
Er unterbrach sich mitten im Satz, denn der See zog wieder seine Aufmerksamkeit an.
Tessa Long wusste, dass es jetzt keinen Sinn hatte, eine
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