1227 - Verschollen im Mittelalter
das Paradies?
Während Nelson auf das Summen der Rotoren und das leise »Klickklickklick« der kleiner werdenden Zahl lauschte, erinnerte er sich an die vergangenen Wochen:
Professor van der Saale war aus dem Schwärmen gar nicht mehr herausgekommen. Dass sich gleich drei ihrer Schüler dermaßen wissbegierig mit ihrem Spezialgebiet beschäftigten, Fragen über Fragen stellten und sich mit einfachen Antworten nicht zufrieden gäben, hatte sie zu wahren Hymnen auf das Mittelalter veranlasst. Keineswegs sei diese tausendjährige Epoche finster und grausam, barbarisch, rückständig und freudlos gewesen, wie dies allzu oft auch von gelehrten Kollegen verbreitet werde. Im Gegenteil: Das mittelalterliche Leben sei bunt und romantisch gewesen, die Menschen aufgeschlossen und fortschrittsgläubig, kurz, unsere eigene Kultur sei ohne das Mittelalter schlichtweg undenkbar.
Algebra und Dezimalrechnung, Papiergeld und Buchdruck, Porzellanherstellung und Eisenverhüttung, Mikroskopie, ja sogar Fotografie, Telefon, Kühlschrank, Kompass und Windrad, Raketen und Schießpulver, schließlich auch die Universitäten, Banken, Hospitäler und Parlamente – all das habe seine Ursprünge in der Zeit zwischen dem 5. und 15. Jahrhundert.
»Und was ist mit den Kreuzzügen, der Sklaverei, dem Leibeigentum, der Ketzerverfolgung und Hexenverbrennung?«, hatte Judith gefragt. »Ganz zu schweigen von der Unterdrückung der Frauen?!«
Professor van der Saale hatte ihr zunächst zugestimmt. Natürlich habe es all diese schrecklichen Auswüchse in jener Zeit, die manche die dunkle nannten, auch gegeben. »Aber das ist menschlich, nicht mittelalterlich«, hatte sie behauptet. »Oder haltest du die Judenvernichtung in die Zweite Weltkrieg, die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki, die Folterdiktator in Chile, die Massenvergewaltigungen in das ehemalige Jugoslawien, das Genozid in Ruanda, das Selbstmordattentate der Palästinenser und die staatlich verordneten Hinrichtungen in China, im Iran und USA für fortschrittlich?«
Darauf hatte selbst Judith nichts zu entgegen gewusst.
Wahrscheinlich glaubt jede Generation von sich, dass sie die fortschrittlichste ist, dachte Nelson, während die Zeit – wenigstens auf dem Computerbildschirm – »Klick« für »Klick« rückwärts lief und sie ihrem Ziel Jahr für Jahr näher kamen. Er konzentrierte sich wieder auf ihre bevorstehende Mission und gestand sich ein, dass ihm nicht bloß mulmig zumute war, sondern dass er schlicht und einfach Angst hatte, eine Heidenangst, wie er sie noch nie in seinem Leben empfunden hatte. Und wenn er ehrlich war, wäre er nicht sonderlich enttäuscht, sondern vielleicht sogar erleichtert gewesen, wenn am Ende des Tunnels statt des Mittelalters wirklich ihre Mitschüler auf sie gewartet hätten.
Nach einer Ewigkeit näherten sie sich endlich ihrer Zielzeit. Gebannt verfolgten die Freunde, wie das Zählwerk an Geschwindigkeit abnahm – 12270821, 12270820, 12270819 – und bei 12270818 schließlich stehen blieb. Wie auf Kommando schalteten sich die Laserkanonen ab, sodass das blaue Zelt in sich zusammenfiel.
Unschlüssig sahen sich die drei an. Keiner sagte ein Wort. Die Zeitmaschine war dieselbe und auch die schwach erleuchtete Höhle schien sich in den letzten Stunden – oder Jahrhunderten – nicht verändert zu haben. Zumindest konnten sie auf den ersten Blick keinen Wandel erkennen.
»Wollen wir?«, fragte Nelson und schaltete den Rechner ab.
Sie packten ihre Bündel und machten sich schweigend auf den Weg. Luk ging voran, Judith lief in der Mitte, Nelson bildete die Nachhut. Sie hatten Fackeln entzündet, die ein gespenstisches Licht an die Wände warfen und die Schatten der drei Freunde riesengroß erscheinen ließen. Die einzigen Geräusche, die sie vernahmen, stammten von ihren eigenen Schritten und dem Wind, der durch den Höhlengang jaulte und sie mehr als einmal erschauern ließ.
Nach etwa einer halben Stunde veränderte sich das Licht. Allmählich wurde es heller und heller, bis sie in der Ferne einen weißen Fleck erkannten – der Ausgang! Gleichzeitig vernahmen sie ein unheimliches Rauschen, das anschwoll, je mehr sie sich dem Tunnelende näherten.
»Was ist das?«, raunte Luk, wobei seine Stimme zitterte.
Nelsons Gedanken überschlugen sich. Ein solches Rauschen hatte er schon einmal gehört. Er erinnerte sich: Damals hatte er mit seinem Vater einen Trip zu den Niagarafällen gemacht. Aber das war unmöglich. Der Fluss, den sie kannten,
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