1227 - Verschollen im Mittelalter
aufgehört. Über dem Platz schwebt eine tönende Stille, in der das Gemurmel des Mönchs wie eine Beschwörung des Bösen klingt.
Sie schleppen ihn zum Pfahl und binden ihn fest. Er fleht sie an, aber sie ziehen den Strick nur noch fester. Panisch blickt er sich um. Schreit. Schreit um sein Leben. Aber von nirgendwo ist Hilfe zu erwarten.
Er spürt, wie es ihm nass das Bein hinunterläuft. Aber er empfindet keine Scham. Ein letztes Mal hebt er den Kopf. Tränen rinnen ihm über die Wange. Die Menge verschwimmt vor seinen Augen. Hinter dem Schleier fällt ihm eine Gestalt auf. Mit einem Gesicht ohne Augen. Irgendwo in seinem betäubten Gehirn schlummert die Gewissheit, dass er die Gestalt kennt. Aber woher? Jetzt hebt sie die Hand. Wie zu einem letzten Gruß.
»So geben wir diese Seele dem Feuer am einundzwanzigsten Tage des achten Monats Anno Domini zwölfhundertsiebenundzwanzig, auf dass der Herr, unser Hüte, sich seiner annehme bis zum Jüngsten Tag«, deklamiert der Mönch.
In diesem Moment beginnt das Feuer zu prasseln. An vier Stellen zugleich. Er, mittendrin, spürt die Hitze, spürt die Flammen, die an seinen Füßen lecken, den beißenden Rauch, der ihm die Sicht und den Atem nimmt, bis um ihn herum alles schwarz wird und er die Besinnung verliert.
Zweiter Teil
»Erst wenn du die Stadt verlassen hast, siehst du, wie hoch sich ihre Türme über die Häuser erheben.«
Friedrich Nietzsche (1844-1900)
12
Die Nacht war sternenklar. Der Mond tauchte die Wälder zu Füßen der Burg in ein mystisches Licht. Über die Wipfel der Bäume glitt der Schatten eines Vogels und verschwand so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Weiter entfernt im Dorf flammte ein Licht auf und erlosch wieder – wahrscheinlich die Scheinwerfer des Bäckerautos, denn um diese Zeit schliefen die Dorfbewohner noch tief und fest.
Nelson stand am Fenster und sandte seine Blicke über die weite Ebene. Vielleicht genoss er diesen Anblick zum letzten Mal.
In den vergangenen Wochen war ihm zunehmend mulmig geworden. Ohne Zweifel gingen sie bei ihrer Reise ins Ungewisse ein unkalkulierbar hohes Risiko ein, das ihm erst nach und nach bewusst geworden war. In einer Zeit, in der das Recht des Stärkeren über allem stand, konnte schon ein einziger Fehler über Leben und Tod entscheiden.
Doch mit der Beklommenheit war auch die Aufregung gewachsen, das Kribbeln angesichts eines Abenteuers, das vielleicht als das größte Abenteuer der Menschheit in die Geschichtsbücher eingehen würde – vorausgesetzt natürlich sie kehrten in die Gegenwart zurück um ihren Zeitgenossen davon berichten zu können.
Er sah auf die Uhr. Viertel nach vier. Zeit zum Aufbruch. Er zog das vorbereitete Bündel unter dem Bett hervor, lauschte einen Augenblick auf das Geschnaufe Gottfrieds und zog leise die Tür hinter sich zu.
Judith und Luk erwarteten ihn ungeduldig. Beide hatten sich bereits umgezogen.
»Kapitän Nelson, wie schön, dass Sie schon ausgeschlafen haben«, begrüßte ihn Judith auf ihre unnachahmliche Art.
»Ausgeschlafen ist gut«, knurrte Nelson, der die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte. Ohne sich auf weitere Wortgefechte einzulassen, begann er die bereitliegende Kleidung anzulegen, wobei er dankbar war für das Dämmerlicht, das sie umgab. Die Unterhose kratzte, sie bestand aus grobem Leinen, das Judith mit dickem Faden vernäht hatte. Darüber zog er eine bis zu den Füßen reichende Kutte, die mit ihren schmalen, langen Ärmeln einer römischen Tunika glich und um die er auf Höhe der Hüfte einen Ledergürtel band. Es folgte das so genannte Skapulier, zwei Stoffstreifen mit angenähter Kapuze, die über Brust und Rücken fielen und ebenfalls bis zum Boden reichten. Da sich die Freunde als wandernde Mönche ausgeben wollten, durfte am Ende auch die Kukulle nicht fehlen, ein großer Ausgehmantel mit Kapuze und weiten Ärmeln. An die nackten Füßen schließlich schnallte sich Nelson Sandalen.
Alle Kleidungsstücke waren braun gefärbt. Sie hatten sich für die Farbe der Franziskaner entschieden, jenes Ordens der Minderbrüder, der im Jahr 1209 gegründet und 1223 – vier Jahre vor ihrer voraussichtlichen Ankunft – von Papst Honorius III. anerkannt worden war. Als Angehörige eines Bettelordens konnten sie sich frei bewegen. Und da den Franziskanern neben der Seelsorge auch die Pflege der Wissenschaften am Herzen lag, mochte dies als Erklärung herhalten, falls sie ihren Wissensvorsprung durch eine
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