1227 - Verschollen im Mittelalter
mir in meiner Trauer nicht jedes einzelne ihrer Gesichter gemerkt. Verzeiht meinen Zweifel, den nicht ich gesät habe, dem ich jedoch bedauerlicherweise erlag. Bruder Notker…«, dabei warf er dem Eiferer einen drohenden Blick zu, »… sollte in Zukunft genauer zuhören oder besser noch dem Schweigegebot der Weisen folgen.« In diesem Moment schritt eine Gruppe Höfischer aus dem Gefolge des Fürsten vorbei, von denen einige Alexander zunickten. »Wenn ihr mich entschuldigen wollt…«, fuhr der Gelehrte fort und schickte sich an, der Gruppe zu folgen. »Ich habe meine Aufmerksamkeit schon viel zu lange einem Menschen gewidmet, der ihrer nicht würdig ist. Und damit, meine jungen Brüder, meine ich ganz sicher nicht einen von euch.« Er nickte ihnen kurz zu und ließ Bruder Hitzblitz zurück wie einen begossenen Pudel.
»Wenn du uns entschuldigen willst«, erklärte Luk, seinen Triumph sattsam auskostend, »wir haben unsere Aufmerksamkeit schon viel zu lange jemandem gewidmet, der ihrer vollkommen unwürdig ist. Und damit, Bruder Notker, meine ich ganz sicher nur dich und dich allein.«
Sie ließen Notker grußlos stehen und setzten ihren Weg zur Burg fort. Aber als sie dort ankamen, war von Alpais und seinen Mannen weit und breit nichts zu sehen. Wie ausgestorben lag der Burghof vor ihnen, selbst die Wachen an den Toren hatten augenscheinlich dienstfrei.
»Was jetzt?«, fragte Luk.
»Keine Ahnung.« Nelson schielte hinüber zum Küchentrakt. »Vielleicht sind sie in den Katakomben.«
»Vergiss es«, brach es aus Luk hervor. »Da bringen mich keine zehn Pferde mehr rein!«
Nelson verspürte selbst wenig Lust, sich erneut in die Höhle des Löwen zu begeben. Zudem hatte sie Alpais gewarnt. Wie es aussah, wären sie ihm diesmal schutzlos ausgeliefert.
»Okay«, sagte er. »Lass uns zurückgehen. Mit Hilfe des blauen Reiters wird Levent hoffentlich schon bald frei sein.«
Sie folgten dem Pfad, der an Friedhof und Kräutergarten vorbei zum Festplatz führte. Das kleine Gräberfeld hatten sie schon fast hinter sich gelassen, als Nelson aus den Augenwinkeln eine Bewegung hinter der äußersten Hecke wahrnahm. Er stockte. Legte den Finger auf den Mund. Wurden sie beschattet? Luk sah ihn fragend an. Einen Moment zögerte Nelson, dann sprang er entschlossen zurück, baute sich vor dem Mäuerchen auf und schrie: »Du kannst ruhig rauskommen! Oder hast du Angst vor zwei unbewaffneten Minoriten?!«
»Keineswegs«, antwortete eine wohl vertraute Stimme. Severin von Antiochia trat aus dem Halbdunkel, in seinem Schatten eine sichtlich verängstigte Adiva. »Verzeiht das Versteckspiel. Die bösen Männer haben mein Mädchen erschreckt. Jetzt hat es ihr die Sprache verschlagen. Und ohne sie… Ihr wisst, meine Augen sind nicht die besten.«
Nelson und Luk vergewisserten sich, dass sie unbeobachtet waren, und gesellten sich dann zu dem Blinden und seiner kleinen Begleiterin, die im Schutz der Hecke ihr Lager aufgeschlagen hatten.
»Du sprichst von Alpais und seinen Leuten«, flüsterte Nelson.
»So ist es«, antwortete Severin. »Wir können von Glück sagen, dass er uns nicht entdeckt hat. Ein verwundetes Raubtier ist unberechenbar.«
»Verwundet«, wiederholte Nelson nachdenklich. »Und wenn er sich seine Wunde selbst zugefügt hat?«
»Was?«, hakte Luk nach.
»Ich weiß nicht«, grübelte Nelson. »Ich frage mich nur, warum er so schnell aufgegeben hat.«
»Du meinst, er hätte Christos ausweichen können?« Severin kratzte sich die Stirn. »Ich erkenne nicht, worauf du hinauswillst, mein junger Freund.«
Nelson richtete sich auf. »Vielleicht bilde ich mir das ja alles nur ein«, sprudelte es aus ihm heraus. »Aber kommt es euch nicht merkwürdig vor, dass ein Ritter, der bei dem größten Ritterturnier seiner Zeit unter die letzten zwölf kommt, auf solch klägliche Weise aufgibt und seinen guten Ruf riskiert? Warum?«
»Vielleicht hat er erkannt, dass er gegen die anderen nicht die geringste Chance hätte«, warf Luk ein. »Vielleicht hatte er Schiss. Oder einfach keinen Bock, vor den Augen seiner Gönner im Dreck zu landen und sich dabei womöglich noch ein paar Rippen zu brechen.«
»Das sieht ihm nicht ähnlich«, wandte Severin ein. »Vielleicht…« Er stockte. »Wenn du Recht hast, gibt es nur eine stichhaltige Erklärung für seinen Verzicht: eine wichtigere Aufgabe, eine höhere Berufung. Jedenfalls, so kann ich euch versichern, war er wütend, als er hier vorbeikam. Sehr wütend.«
»Hast du etwas
Weitere Kostenlose Bücher