1227 - Verschollen im Mittelalter
aufgeschnappt?«, wollte Nelson wissen.
»Nur Unflätiges«, antwortete der Blinde. »Er hat Christos verflucht. Er nannte ihn einen Schuft und Verräter, dem man am besten den Kopf abschlagen sollte. Aus seinen Worten klang blinder Hass. Ich habe mich noch gewundert. Keine Niederlage rechtfertigt einen solchen Hass.«
»Hat er Christos beim Namen genannt?«, hakte Nelson nach.
Severin überlegte und schüttelte langsam den Kopf. »Wenn du so fragst, nein, das hat er nicht. Aber auf wen sollte sich sein Hass sonst richten?«
Nelson schwieg. Er hatte wieder eine seiner plötzlichen Ahnungen. Aber diese war in ihrer Konsequenz so verhängnisvoll, dass er sie lieber für sich behielt.
Es wurde Zeit. Das Finale stand unmittelbar bevor. Sie trennten sich. Nach dem Turnier wollten sie sich im Kräutergarten wiedertreffen.
Als Luk und Nelson den Turnierplatz erreichten, hatten die meisten Zuschauer ihre Plätze wieder eingenommen. Bruder Tadeus erwartete sie bereits ungeduldig. »Habt ihr schon gehört?«, begrüßte er sie. »Adomat hat es noch schlimmer erwischt als befürchtet. Der Medicus ist bei ihm. Er hat viel Blut verloren. Heiliger Strohsack, es heißt sogar, er ringt mit dem Tod.«
Nelson versetzte die Nachricht einen Stich. Die Wahrscheinlichkeit, dass der blaue Reiter als Nächster gegen den brutalen Engländer antreten musste, betrug rein rechnerisch zwar nur eins zu fünf, aber selbst wenn er ihm diesmal noch entgehen sollte, würde er in der letzten Runde mit Sicherheit auf ihn treffen – schließlich hatte Brian etliche Turniere gewonnen!
Der Herold trat vor. Augenblicklich verebbte das Stimmengesumm. »Wohlan«, dröhnte seine Stimme über den Platz, »lasst uns die edlen Helden in unserer Mitte nun willkommen heißen! Mögen sie uns von neuem an der hohen Kunst des Lanzenkampfs teilhaben und ihre Schwerter tanzen lassen, sich selbst zu Ruhm und Ehr und uns zum Wohlgefallen!«
Nelson stöhnte leise. Dieses schwülstige Geschwafel fand er im Hinblick auf Adomats Schicksal kaum erträglich.
»Sechs ehrenhafte Ritter«, hob der Herold wieder an, »werden nun den besten unter sich bestimmen. Den einen, den die Sänger in ihren Liedern preisen werden und der den Namen dieser Burg und des Herrn, der zu diesem Feste uns geladen, fortan in seinem Wappen führen soll.«
Applaus brandete auf, der zwar dem Fürstenpaar galt, in dem jedoch vor allem dessen Sprachrohr badete.
Fanfaren erschollen und vom Zeltplatz näherten sich die Ritter nebst ihrem Gefolge – Pagen, Knappen und andere Wasserträger.
»Ich rufe nun Graf Ingolf von Reinhardtsheim und Gilbert von Lichtenstein zu den Waffen!«, trompetete der Herold, als sich der Jubel gelegt hatte. Die Genannten trabten in die Ausgangsposition, während die anderen vier Finalisten im Sattel sitzen blieben, um dem Kampf von der Tribüne aus zu folgen. Zu gern hätte Nelson gewusst, was in diesem Moment im Kopf des blauen Reiters vor sich ging. Sicher wusste er um Adomats bedrohlichen Zustand. Sir Brian und er würdigten sich keines Blickes. Kannten Ritter Furcht? Glaubte der blaue Reiter am Ende wirklich daran, das Herz der holden Melisande zu erobern?
Die letzten Stimmen waren gerade verstummt, die Spannung auf dem Siedepunkt, als plötzlich etwas geschah, das Nelson das Herz stocken ließ. Er glaubte einen Schrei zu hören, der von fern her an sein Ohr wehte. Levent? Er starrte hinüber zur Burg, konnte aber niemanden entdecken. Außer ihm schien keiner der Zuschauer etwas Ungewöhnliches vernommen zu haben. Alle starrten hinunter. Gerade nahmen die Kämpfer ihre Lanzen in Empfang. Gilbert griff nach den Zügeln. Nelson drehte sich um. Seine Blicke flogen über die Köpfe der Zuschauer. In der obersten Reihe entdeckte er Severin. Er hatte den Kopf schief gelegt. Schien zu lauschen. Jetzt beugte er sich zu Adiva. Flüsterte ihr etwas ins Ohr. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Daraufhin wandte sich der Blinde wieder nach vorn. Kratzte sich am Kinn. Nelson war plötzlich unsicher. Hatte er sich verhört? War das nicht der Schrei eines Menschen, sondern einer Katze gewesen? Oder…
Kampfgebrüll riss ihn aus seinen Gedanken. Gilbert war losgesprengt. Sein Schrei übertrug sich auf die Zuschauer, die wie elektrisiert aufsprangen. Graf Ingolf starrte ihm entgegen. Sein Ross stieg hoch. Eine ewige Sekunde lang schwebte der prächtige schwarze Schweif des Pferdes in der Luft. Dann raste es los. In großen Sprüngen näherten sich Ross und Reiter dem Ritter aus
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