1227 - Verschollen im Mittelalter
euch das Recht, über Menschen zu richten?! Weder Papst noch Kaiser haben euch die heiligen Insignien geliehen.« Er breitete seine Arme aus und sah mit einem Mal wie ein König aus, der auf dem Schlachtfeld zu seinem Volke spricht. »Hier stehe ich, Severin von Antiochia, und klage euch selbst des Frevels an, Gottes reines Antlitz zu entstellen! Anmaßend seid ihr, machtversessen und ohne Demut. Wenn einer hier und jetzt mit der Zunge des Antichristen spricht, dann ihr!«
Das war zu viel für den stolzen Alpais. »Ergreift ihn!«, schrie er, die Hände zu Fäusten geballt. »Brennen sollst du Teufel, brennen, brennen!«
In diesem Moment loderte vor der Kirche Feuer auf. Jemand kreischte. Von allen Seiten eilten Alpais’ Häscher heran um Severin zu fassen. Schwester Clothilde sprang vom Pferd, in ihrer Hand die Peitsche des Wagenlenkers. Sie holte gerade aus um dem Ersten eins überzuziehen, als plötzlich ein blauer Blitz aufzuckte. Einer der Angreifer sackte wie ein gefällter Baum zu Boden. Aus Severins weitem Ärmel schoss ein weiterer Blitz und streckte auch den zweiten Widersacher nieder. Andere Angreifer hielten abrupt inne und wichen ängstlich zurück. Entsetzen machte sich breit. Die Meute drängte bestürzt zurück, einige fielen übereinander, andere wirkten wie gelähmt und starrten Severin mit weit aufgerissenen Augen und Mündern an.
Nelson reagierte instinktiv. Er presste seine Fersen in die Flanken des Pferdes und preschte los. Luk klammerte sich an ihn. Die Leute wichen zur Seite, öffneten eine Schneise zum Licht. Der Scheiterhaufen brannte lichterloh. Seine Flammen schossen so hoch, dass ihr Licht die Kirchturmspitze erhellte. Nelson sprang vom Pferd und rannte auf das Feuer zu. Die Gestalt am Pfahl regte sich nicht. Er packte einen langen Scheit, der noch nicht brannte, und stocherte damit in dem Haufen herum, bis sich eine Lücke auftat, durch die er hindurchschlüpfte. Levents Kopf war auf die Brust gesackt, seine Augen waren geschlossen. Er ist tot, dachte Nelson voller Panik und begann trotzdem an der Fessel zu zerren. Flammen züngelten nach ihm und versengten den Saum seiner Kutte. Beißender Rauch verdeckte ihm die Sicht, raubte ihm den Atem. Er hielt die Luft an. Spürte Funken an seiner Wange. Zerrte am Seil, bis sich der Knoten endlich löste. Die Kordel fiel ins Feuer und Levent kippte zur Seite. Jemand fing ihn auf. Luk! Er war Nelson zu Hilfe geeilt. Gemeinsam zerrten sie den Leblosen aus den Flammen. Plötzlich fing Nelsons Kutte Feuer. Er riss sie sich vom Leib und stand bis auf die Unterhose nackt da. Er achtete nicht darauf. Merkte es noch nicht einmal. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Jungen, der völlig reglos neben ihm lag. Er beugte sich über ihn und rüttelte ihn. Levent reagierte nicht. Luk schrie irgendetwas, das Nelson nicht verstand, und deutete wild gestikulierend hin zur Menge, die nicht mehr stand, sondern kniete und die Hände zum Himmel reckte. Doch das nahm Nelson nicht wahr. Es hatte mit ihm nichts zu tun. Für ihn gab es nur diesen Menschen, für den sie all das auf sich genommen hatten und der sich nicht rührte. Die schwarzen Haare waren versengt, an Händen und Füßen zeigten sich Brandblasen, seine Wange war geschwollen. Aber nicht der Anblick dieser Verletzungen presste Nelson das Herz zusammen. Er starrte auf Levents Brustkorb, auf seinen Mund. Da bewegte sich nichts. Levent atmete nicht mehr. Er war nicht bloß bewusstlos, er war…
In Nelsons Kopf formte sich ein Wort, das größer und größer wurde und plötzlich in seinen Ohren klang, weil er es herausschrie – »Nein!« – ein einziges, lang gezogenes »Neiiiin!« Das durfte nicht sein, nein, nein, das konnte nicht sein, nein, das war nicht fair, die wenigen Minuten, die sie gebraucht hatten, nein, die konnten doch nicht über Leben und Tod entscheiden. Nein!
Doch dann schlug seine Verzweiflung plötzlich in Wut um. Eine trotzige Wut, die sich weigerte anzuerkennen, dass alles so enden sollte. Er beugte sich über Levents Kopf, hielt ihm den Mund zu und blies Luft in seine Nase. Er wartete einen Moment und wiederholte die Aktion. Wieder und wieder. Wieder und wieder. Er tat es so, wie er es gelernt hatte, doch das Leben kehrte nicht in den Körper unter ihm zurück. Er merkte, wie ihn die Kraft verließ, wie seine Bewegungen langsamer wurden, die Abstände zwischen seinen Belebungsversuchen größer. Als er schon aufgeben wollte, erschöpft und benommen, als er den Tod dieses Menschen,
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