1227 - Verschollen im Mittelalter
für einen Moment die Augen, wie um dem Klang des Namens nachzulauschen. »Oder hat sich die edle Jungfrau in eine – Stute verwandelt?!« Bei seinen letzten Worten sprang er einen Schritt nach vorn und stach seinen wulstigen Zeigefinger in Richtung jenes Schimmels, auf dem Luk und Nelson hockten.
Die Frau hinter ihnen lachte schrill. Nelson zuckte herum. Klammheimlich hatte sich der Ring um sie geschlossen. Dicht drängten sich die Gaffer aneinander, flankiert von einer Horde finster dreinblickender Schergen, die ihre Schwerter griffbereit an der Hüfte trugen.
»Schweig!«, herrschte ihn Schwester Clothilde an. »Wir haben keine Zeit für deine albernen Spielchen!«
»Soso«, machte der teigige Mönch. »Keine Zeit. Warum habt ihr es denn so eilig?«
»Das weißt du genau!«, donnerte die Nonne. »Gebt uns den Spielmann heraus! Fürst von Rosenstoltz hat bestimmt, dass er unverzüglich freizulassen ist.«
»Hat er das?«, antwortete der Inquisitor mit eisiger Stimme. »Tat er dies auf Geheiß der schönen Melisande?«
»Ganz recht«, entgegnete Schwester Clothilde trotzig. Im Gegensatz zu Nelson hatte sie keine Ahnung, worauf das Ganze hinauslaufen sollte.
»Und wenn die Jungfrau in Wahrheit gar keine Jungfrau ist, sondern ein Mönchlein, das in den Kleidern eines Weibes den Teufel beschwört?!«
Die letzten Worte hatte der Mönch herausgeschrien und sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Lioba war plötzlich kreideweiß im Gesicht. Nelson spürte, wie Luk hinter ihm zu zittern begann. Um sie herum zischte und spuckte der Mob wie ein Vulkan kurz vor seinem Ausbruch.
Nur einer blieb ruhig. Einer, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, um jetzt umso eindringlicher seine Stimme zu erheben – Severin. »Du redest wirr«, sagte er laut und vernehmlich und glitt behände vom Pferd. »Kannst du deine Behauptung hier und jetzt beweisen?«
Nelson dankte Gott, dass sie Judith bei Johann zurückgelassen hatten. Wutschnaubend trat der Inquisitor auf Severin zu. »Du wagst es, mich einen Lügner zu schimpfen, Ketzer?«, brüllte er. »Dein Augenlicht scheint ein zu geringer Preis für deinen Hochmut. Aber noch ist es nicht zu spät! Für deinen Frevel wirst du brennen – hier und jetzt!«
Seine Worte, hysterisch herausgeschrien, hallten über die Köpfe der Menge, die sie aufnahm und vielfach zurückschleuderte. Die Pferde schnaubten aufgeregt. Panisch blickte sich Nelson nach allen Seiten um. Es gab keinen Ausweg. Sie saßen in der Falle. Selbst wenn die Pferde ausreißen würden, hätten sie keine Chance, zu entkommen. Die Meute würde sie herunterreißen, zu Tode prügeln und das, was dann noch von ihnen übrig war, ins Feuer werfen. Den Bruchteil einer Sekunde dachte er an Levent, der irgendwo in der Nähe darauf harrte, dasselbe Schicksal zu erleiden. Aber Nelsons Angst war größer als sein Mitleid. Nein, er wollte nicht sterben! Nicht so!
Plötzlich trat Alpais vor, sein Schwert in der Hand. Mit ihm wies er zur Kirche am Rande des Platzes. An mehreren Stellen flackerte Feuer auf. Fackeln wurden entzündet. Erst jetzt bemerkte Nelson den Scheiterhaufen. Sie hatten ihn unmittelbar vor dem Gotteshaus aufgeschichtet. Ein riesiger Scheiterhaufen mit einem hohen Pfahl in der Mitte. Die Umrisse eines Menschen wurden sichtbar. Er rührte sich nicht. Langsam bewegten sich die Fackeln auf ihn zu. Tanzten wie Irrlichter durch die Nacht, um den Schatten auszulöschen für immer.
»Verbrennt sie! Verbrennt sie!«, kreischte Notker auf einmal los. Sein Gesicht war zu einer Fratze verzerrt, seine Augen flackerten wie die eines Irrsinnigen. »Es sind Juden! Christusmörder! Verbrennt sie, bevor es zu spät ist! Der Antichrist hat sie gesandt um die Christenheit zu vernichten. Der Antichrist hat aus seinem Mund gesprochen…« – dabei deutete er auf Luk – »… und kundgetan, dass die Juden dereinst den Thron Jerusalems besteigen. Verbrennt den Satan! Schützet die Heilige Stadt! Verteidigt den Glauben! Verbrennt sie! Gott will es! Er, der sein Blut vergoss und die Sünden der Welt auf sich nahm, er will es!«
Seine Stimme überschlug sich, Speichel tropfte ihm aus dem Mund. Er setzte erneut an, brach jedoch abrupt ab, als Severin zwei schnelle Schritt auf ihn zumachte. Ängstlich wich er zurück.
»Genug!« Die Stimme des Blinden donnerte wie ein Kanonenstoß über die Köpfe der Menge. »Haltet inne! Schweigt, wenn ihr vorgebt im Namen Gottes zu sprechen! Unwürdig seid ihr, seinen Namen im Munde zu führen! Wer gibt
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