1227 - Verschollen im Mittelalter
quer zum Weg inmitten eines Waldstücks, durch das ein kleiner Bach gurgelte. Die Pferde schnaubten wütend, sonst war es still.
»Jemand verletzt?«, schrie Lioba und kletterte vom Wagen.
Keiner antwortete.
Nelson öffnete die Augen. Seine Stirn tat weh. Er erinnerte sich dunkel, dass er mit irgendwem zusammengerummst war. Zwei Köpfe, die ein Geräusch gemacht hatten, wie wenn ein Ei zerplatzt. Er lag auf der Seite, Judith halb über ihm. Seine Kutte war hochgerutscht. Adiva umklammerte sein nacktes Bein. Sie grinste. Er roch Judiths Haar – es duftete nach Vanille. Sie regte sich. Mühsam versuchte sie sich von ihm zu befreien, rutschte aber wieder zurück. Über ihr lagen Luk und Severin. Luk stöhnte. Die Tür wurde aufgerissen. Schwester Clothilde steckte ihren Kopf herein. An ihr vorbei blickte Nelson in das kreidebleiche Gesicht des jungen Wagenlenkers. Gemeinsam zogen sie einen nach dem anderen aus dem Karren. Als Adiva an der Reihe war, gluckste sie vor Vergnügen.
Dann saßen sie auf dem weichen Waldboden und leckten ihre Wunden. Nelson betastete seine Beule. Judith hielt sich die rechte Schulter. Luks Knie waren aufgeschrammt und auch er hielt sich den Kopf. Aber zum Glück hatte sich niemand etwas gebrochen. Severin und Adiva waren wie durch ein Wunder ohne Blessuren davongekommen.
»Die Achse ist gebrochen«, verkündete Johann.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, fluchte Luk.
Judith fiel wieder in sich zusammen. »Ich hab’s ja gesagt«, murmelte sie vor sich hin. »Es ist vorbei. Ich hab’s versaut.«
Nelson sprang auf. »Wir haben immer noch die Pferde!«
»Ganz recht!« Schwester Clothilde stellte sich hinter ihn. Ihre Augen sprühten Funken. »Gott will, dass wir diesen verfluchten Hunden eine Lektion erteilen!« Sie wies in Judiths Richtung. »Adiva und Melisande bleiben bei Johann. Severin, wir zwei Hübschen teilen uns einen Gaul.«
Der Blinde nickte. Er beugte sich zu Adiva und redete beschwichtigend auf sie ein. Das Mädchen sträubte sich zunächst, lief dann aber zu Judith und verbarg das Gesicht in ihrem Schoß.
Währenddessen machten sich Johann, Luk und Nelson daran, die Pferde auszuspannen. Nelson erinnerte sich wieder seines Plans. Er zog seinen Beutel aus dem Karren und kramte darin, bis er gefunden hatte, was er suchte.
Schwester Clothilde stieg als Erste aufs Pferd. Johann hob Severin zu ihr herauf.
»Ohne Sattel?«, stöhnte Luk.
Nelson war bereits aufgesessen. »Klammer dich einfach an mich!«, rief er. Kaum hockte sein Freund hinter ihm, schnalzte er mit der Zunge und los ging’s.
Sie folgten dem Pfad durch den finsteren Wald und hatten Glück, dass die Wolken den Mond freigaben, der durch die Äste lugte und ihnen gerade so viel Licht spendete, dass sie überhaupt etwas erkennen konnten. Hin und wieder huschte eine Fledermaus durch die Nacht und einmal brach ein Wildschwein, das sie aus dem Schlaf gerissen hatten, durchs Gehölz.
Es war lange her, dass Nelson das letzte Mal auf einem Pferd gesessen hatte, und so tat er sich zunächst schwer, mit Schwester Clothilde Schritt zu halten. Wie der Teufel jagte sie auf ihrem Rappen voran, sprang über umgestürzte Baumstämme, wich anderen Hindernissen aus und wurde nicht müde, das arme Tier immer wieder lautstark anzutreiben, bis ihm der Schaum aus den Nüstern trat. Severin machte eine merkwürdige Figur. Steif wie ein Aristokrat hockte er hinter der riesigen Nonne und klammerte sich gleichzeitig an sie wie ein kleines Kind.
Nelson schloss auf. Bei vollem Galopp unterrichtete er die anderen atemlos von seinem Plan. Er wunderte sich, dass niemand Bedenken anmeldete – aber wahrscheinlich hatte keiner eine bessere Idee.
Nach einer Weile, die Nelson wie eine Ewigkeit vorkam, stießen sie wieder auf den Fluss.
»Wohin?«, keuchte er.
»Flussabwärts«, kommandierte Severin.
Es dauerte nicht lange, da tauchten aus der fahlen Dunkelheit die Umrisse einer kleinen Stadt auf. Sie hielten geradewegs darauf zu. Das Tor stand offen. Weit und breit waren keine Wachen zu sehen.
Als sie der schmalen Hauptstraße ins Zentrum folgten, empfing sie nachtschwere Stille. Ängstlich kauerten sich die Häuser aneinander, nirgendwo ein Licht oder Lebenszeichen, die Stadt wirkte wie ausgestorben.
»Seltsam«, murmelte Severin.
Plötzlich tauchte vor ihnen ein Schatten aus dem dunklen Nichts auf. Er huschte durch eine der Gassen und war im nächsten Moment verschwunden. Nelson war nicht sicher, ob er vor ihnen floh oder sie
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