1229 - Das Vogelmädchen
wollte.
»Ich bin Carlotta!«
Die Blonde hörte auf zu schreien. Sie legte den Kopf schief und deutete gegen ihr Ohr.
»Carlotta!«, wiederholte das Mädchen und deutete ebenso auf sich selbst wie es Sina vorhin bei sich getan hatte.
Genau die Geste wurde verstanden. Sina begann zu lachen und strich mit der freien Hand über ihren dunklen Lederrock, der an einer Seite einen Schlitz aufwies, sodass automatisch viel Bein von ihr zu sehen war. Auch sonst hatte sie einen Körper, der sich sehen lassen konnte, wie auch Maxine feststellen musste. Wäre da nur nicht ihr Gesicht mit dem harten Ausdruck gewesen, das auch einem Mann hätte gehören können, und natürlich die kalten, schon erbarmungslosen Augen.
Maxine ergriff die Initiative. Auch wenn Sina bewaffnet war, sie wollte demonstrieren, dass sie sich nicht vor ihr fürchtete.
Sie ließ Carlotta los, ging eine halben Schrittlänge vor und dann nach links, sodass sie vor dem Vogelmädchen stand und es mit ihrem Körper deckte. Es stand fest, dass die Blonde die Sprache nicht verstand, aber die Ärztin hoffte, dass sie ein Wort begriff, zumal dann, wenn es mit dem nötigen Nachdruck gesprochen wurde.
»Nein!«
Die fremde Frau tat nichts.
Zunächst nichts. Sie legte nur den Kopf etwas schräg, und das Runzeln als auch das Zusammenziehen der Augenbrauen sah Maxine nicht eben als ein gutes Zeichen an.
Sie sollte sich nicht geirrt haben. In einem Anfall von Wut trat Sina so heftig mit dem rechten Fuß auf, dass der feine Sand hochflog und einen Moment später brüllte sie Maxine an und schlug mit dem Schwert zu.
Volltreffer.
Damit hatte Maxine nicht gerechnet. Die Klinge erwischte sie am Kopf. Sie hatte das Gefühl, gegen einen Schrank ge fallen zu sein, hörte in ihrem Kopf einen Donnerschlag und zugleich einen gellenden Schrei, den nur Carlotta ausgestoßen haben konnte.
Da allerdings hatte die Ärztin bereits den Boden unter ihren Füßen verloren.
Als sie im zum Glück weichen Sand aufschlug, blitzte es noch mal vor ihren Augen auf, als hätte jemand brennende Wunderkerzen in ihre Nähe gebracht.
Die Welt wurde noch dunkler als sie ohnehin schon war.
Angst erfasste sie. Weniger um sich als um Carlotta, die keine Beschützerin mehr hatte.
Ich darf nicht bewusstlos werden!, hämmerte sie sich ein. Ich will nicht bewusstlos werden. Ich muss ihr doch beistehen! Ich kann nicht zulassen, dass sie…
Maxine kämpfte gegen das Gefühl der Ohnmacht an. Sie riss den Mund weit auf, bekam Sand hinein und bemerkte erst jetzt, dass sie sich hektisch bewegte.
Wieder rutschten Schatten heran, aber diese waren anders als die des Vogels. Es gab keinen Gegenstand, der sie warf. Sie hatten sich aus dem Nichts gebildet und versuchten, ihr normales Bewusstsein zu zerstören.
Sie lag, aber sie schwamm. Sie glitt hoch, sie tauchte und schien dabei die Sandwellen am Strand mit denen des Wassers verwechselt zu haben. Es war eine Welt, aus der sie sich gewaltsam hervorreißen musste, wollte sie nicht untergehen.
Maxine schaffte es. Da konnte man schon von einem brutalen Willen sprechen, der letztendlich stärker war als die besitzergreifenden Schatten der Ohnmacht.
Sie kam wieder zu sich, war aber noch nicht voll da. Bei der Helligkeit des Tages wäre es vielleicht schneller gegangen, so aber umschwebte sie noch die Dunkelheit, die ihr Tuch auch jetzt nicht zur Seite ziehen wollte.
Dann sah sie wieder etwas.
Alles war noch so vorhanden, wie sie es vor dem Treffer erlebt hatte.
Der Riesenvogel, Carlotta auch, die zitternd und trotzdem wie festgebacken im Sand stand und ihren Blick nicht von der Ärztin lösen konnte, aber es war auch eine Person da, die Maxine am liebsten in die tiefste Hölle gewünscht hätte.
Sina war die Siegerin!
Breitbeinig hatte sie sich vor Maxine aufgebaut. Sie hielt den Kopf gesenkt und das Schwert erhoben.
Das ist die blonde Henkerin!, schoss es Maxine durch den Kopf.
Sie tötet mit dem Schwert. Sie will Blut sehen, und es soll mein Blut sein, das fließt.
Sina schrie ihr ins Gesicht.
Maxine wusste nicht, was sie meinte. Obwohl in ihrem Kopf noch einiges durcheinander lief, raffte sie sich soweit auf, dass sie ihren Oberkörper anheben konnte.
Am Gesicht der Blonden sah sie, dass sie genau das Falsche getan hatte. Und mit dieser Bewegung hatte sie auch zugleich ihr Todesurteil unterschrieben.
Die Ärztin wusste nicht, was sie dazu getrieben hatte. Vielleicht war es die plötzliche Erinnerung an eine Filmszene, die sich irgendwo tief in
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