1229 - Das Vogelmädchen
sich, er hatte etwas ganz anderes vor und das zog er auch durch.
Mich traf ein wuchtiger Schlag an der Brust. Noch im gle ichen Augenblick griffen die Krallen zu und hakten sich in meiner Kleidung fest. Sie stießen hindurch, weil sie so spitz waren, und ich spürte sie auf meiner Haut.
Ein Ruck, und ich schwebte über dem Erdboden. Alles ging so schnell, dass ich gar nicht darüber nachdenken konnte. Ich war zu einer wehrlosen Beute geworden, drehte aber trotzdem den Kopf und schaute in den Garten hinab, wo Maxine Wells stand und zu mir hoch schaute. Ich hörte ihr Schreien, doch das brachte auch nichts, denn stoppen konnte sie den Riesenvogel nicht.
Ich wartete auf den ersten Schnabelhieb, bekam aber zuvor noch mit, wie sich auch Carlotta um Rettung bemühte. Sie hatte den Körper der toten Sina zur Seite gerollt, um an die Waffe heranzukommen. Sie zerrte sie unter dem Gewicht weg, dann stieg sie in die Höhe und hielt das Schwert mit beiden Händen fest.
Sie wollte mir zu Hilfe kommen, ich sah sie auch anfliegen und erhaschte für einen winzigen Augenblick ihr starres Gesicht. Es sah so aus, als hätte Carlotta ihr Denken einfach ausgeschaltet.
Gryx ließ sie nicht nahe an sich herankommen. Mit einer blitzschnellen Bewegung seines linken Flügels erwischte er das Vogelmädchen, das den Treffer voll hinnehmen musste und sich dabei noch in der Luft überschlug. Carlotta schlug auf dem Boden auf. Es gab dort keinen Beton, sondern das Gras, das ihren Fall dämpfte, aber sie war für die nächste Zeit ausgeschaltet, sodass Gryx sich mit mir beschäftigen konnte.
Seine Krallen rissen mich hoch. Zugleich senkte er seinen Kopf und öffnete den Schnabel so weit wie möglich. Es war eine furchtbare Lage für mich, denn jetzt stellte ich fest, dass ich mit meiner gesamten Gestalt hineinpasste.
Er würde mich verschlingen, er würde mich…
Plötzlich zuckte der Kopf hoch. Mein Blick wurde wieder frei. Mich erwischte ein Windstoß, der allerdings nicht von dem Riesenvogel stammte, ebenso wenig wie der Schatten, der sich in meiner Nähe bewegte und der aussah wie der Umriss eines Menschen.
»Ich bin da, John!«
Hätte ich Zeit gehabt zum Jubeln, dann hätte ich es jetzt getan, denn ich hatte die Stimme erkannt. Wer mir da helfen sollte, war der Eiserne Engel…
***
Er war einmal Anführer der Vogelmenschen im alten Atlantis gewesen.
Man hatte ihm seine Getreuen genommen, sie umgebracht, zerhackt, verbrannt wie auch immer.
Aber der Eiserne lebte!
Er wollte Gerechtigkeit und hatte schon immer auf dieser einen Seite gestanden.
Ich hing in den Krallen fest. Ich lag dabei auf dem Rücken und konnte nicht sehen, wie weit der Erdboden unter mir entfernt war. Aber ich hoffte, dass ich einen Fall aus dieser Höhe überleben würde, wenn es soweit kam.
Den Kopf hatte ich zur Seite gedreht, um wenigstens etwas erkennen zu können.
Der Eiserne Engel kam.
Er war schnell wie ein Schatten, und er flog Gryx direkt an.
Auch ein Schlag mit der Schwinge konnte ihn nicht abhalten.
Während die Schwinge auf ihn zufuhr, schlug er bereits zu und verkürzte sie durch die Klinge seines mächtigen Schwerts um ein Drittel. Dann holte er noch einmal aus, während der Riesenvogel einen kaum zu beschreibenden Schrei ausstieß.
Etwas fuhr schattenhaft durch die Luft.
Das Schwert des Eisernen.
Dann verstummte der Schrei.
Dicht über meinem Gesicht hinweg flog der Kopf und ein Stück des Halses. Blut strömte aus der Wunde und klatschte gegen mich. Der Flug war nicht mehr als solcher zu bezeichnen. Er glich einem wilden Flattern, aber der Riesenvogel schaffte es nicht mehr, sich in der Balance zu halten. Wer seinen Kopf verliert, ist ausgeschaltet, das war auch hier der Fall.
Dann lösten sich die Krallen von meinem Körper, und ich fiel so schnell, dass mich mein eigener Schrei begleitete. Instinktiv wusste ich, dass sich der Kampf zumindest in Haushöhe abgespielt hatte, und einen solchen Fall zu überstehen, war mehr als fraglich. Ich würde zumindest schwer verletzt sein.
Auf einmal waren die Hände da, die mich abfingen. Und eine ruhige Stimme erreichte mein linkes Ohr. »Keine Sorge, mein Freund, ich bin auch noch da.«
Ein Sprichwort heißt, man fühlt sich geborgen wie in Abrahams Schoß. Und so erging es auch mir. Ich lag in den Armen dieser übergroßen Gestalt, ich schaute in sein bronzenes Gesicht mit den hellen Augen, sah sein Lächeln und hörte seine Stimme.
»Lange habe ich Gryx gejagt. Jetzt habe ich ihn gefunden
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