1251 - Die Heilige und die Hure
eigentlich nicht. Es kommen auch keine Erinnerungen hoch. Wenn das der Fall wäre, würde es mir viel besser gehen. Aber es ist nun mal nicht der Fall, und damit muss ich mich abfinden. Es ist einfach schwer, zu wissen, dass man etwas Besonderes ist, dass es sich jedoch versteckt hält und erst noch aus dem Unterbewusstsein hervorgekitzelt werden muss.«
»Wir werden es schon schaffen!«, erklärte ich zuversichtlich. Ich wollte nicht, dass sie in irgendwelche Ansätze von Depressionen verfiel. Ich schaute auf die Uhr und erschrak. Meiner Meinung nach saßen wir hier schon zu lange untätig herum und das sagte ich Julie auch.
»Dann sollten wir jetzt gehen?«
»Das wäre wohl die beste Lösung.«
Sie schaute noch einmal durch ihr Zimmer. Es war wie ein kleiner Abschied. Dann stand sie mit einem Ruck auf. »Okay, John, ich bin bereit. Lass uns verschwinden.«
Auch ich erhob mich.
Julie war schon dabei, sich zur Tür zu drehen, als etwas geschah, das unsere Pläne zerstörte.
Die Türglocke schlug plötzlich an.
Es war kein lautes Geräusch, mehr ein sachtes Klingeln. In der Stille aber schraken wir zusammen, und Julie wurde schlagartig blass.
»Das sind sie?«
»Wer?«, fragte ich.
»Bestimmt die Polizei!«
Da wollte ich nicht widersprechen. Es war auch besser, wenn die Polizei vor der Tür stand, und nicht die Baphomet-Templer.
Julie ließ sich von mir nicht aufhalten. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte sie den Raum verlassen, dann auch die kleine Wohnung und war im Treppenhaus verschwunden.
Ich dachte daran, dass sie nach unten laufen würde, weil sie plötzlich von einer Panik befallen war, aber da irrte ich mich zum Glück. Sie hatte es nicht getan, sondern war zum Flurfenster gelaufen, um auf die Vorderseite des Hauses zu schauen.
Sehr schnell drehte sich Julie wieder herum. Sie schaute jetzt gegen mich, denn ich stand vor ihr.
Julie war noch blasser geworden. Sie hatte sich auch verkrampft und hielt die Hände zu Fäusten geballt. »Es ist so, John. Die… die… Polizei ist unten.«
»Dann nichts wie weg.«
»Durch das Fenster?«
Sie wollte noch darüber nachdenken und mir erst dann eine Antwort geben. Dazu ließ ich es nicht kommen. Ich zerrte sie zurück in die Wohnung, durch die bereits der zweite Ton der Klingel drang.
Diesmal wesentlich länger.
Der Weg durch das Fenster, dann über die Leiter hinweg und zum Kanal hin, war zwar, nicht leicht zu gehen, aber wir würden auch nicht in die Gracht eintauchen müssen, denn ich hatte dort unten ein Boot gesehen.
Julie stand schon am Fenster und hatte es aufgezogen. Ich schlug die Tür zu und schloss von innen ab.
Wieder hörten wir das Klingeln. Lange würden sich meine belgischen Kollegen damit nicht mehr abgeben. Sie würden irgendwann die Haustür aufbrechen und hochstürmen.
Julie stand am Fenster und schaute hinaus. »Die Luft ist rein!« meldete sie.
»Dann los!«
Ich überließ ihr den Vortritt. Sie fragte auch nicht, was am Ende der Leiter folgte, sie war nur froh, die Wohnung hinter sich lassen zu können.
Der Weg mochte zwar beschwerlich sein, aber ich kannte keinen anderen und besseren. Für mich war wichtig, dass wir weder in die Hände der Polizei gerieten noch in die Klauen der Baphomet-Templer…
***
Die kleinen Plattformen waren dazu da, um sich auszuruhen. Daran dachten weder Julie noch ich.
Wir machten uns auch keine Gedanken darüber, dass die Leiter hin und wieder unter unserem Gewicht schwankte und es im Mauerwerk verdächtig knirschte, es ging alles locker weiter, und das Wasser rückte immer näher.
Natürlich bestand eine große Chance, dass wir auch beobachtet wurden, aber dieses Risiko mussten wir eingehen. Zudem wollte ich auch nicht über Stunden hinweg mit dem alten Kahn über die Gracht schippern. Wir würden sicherlich bald eine Stelle finden, wo wir trockenen Fußes an Land gehen konnten.
Julie erreichte vor mir die letzte Stufe. Sie hielt für einen Moment an und schaute nach unten.
»Verdammt, John, da gibt es keinen Sims.«
»Aber den Kahn.«
»Das schon.«
»Dann spring!«
Julie wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab. Mit den Füßen zuerst ließ sie sich in die Tiefe gleiten. Ich hatte angehalten und den Kopf gesenkt, damit ich sie beobachten konnte.
Ihre Beine pendelten zwischen Wasser und Luft. Es war ein Wagnis. Der Kahn stand nicht direkt unter uns. Ich betete, dass Julie es schaffte, ihn mit einem einzigen Sprung zu erreichen und dass sie nicht in der trüben grünlichen
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