1251 - Die Heilige und die Hure
die Wasserfläche, als wollten sie die kleinen, krausen Wellen streicheln.
Bisher waren wir auf der Kanalmitte gefahren. Diesen Kurs änderte ich und sah zu, dass ich mehr in die Nähe des rechten Ufers geriet, auch wenn uns dort die herabhängenden Zweige störten. Einige Male streifte Julie sie zur Seite, um für uns eine Lücke zu schaffen. Das Wasser war hier seichter geworden. Es gab am Uferrand nicht mehr die Stützmauern. Hier sah die Gracht aus, als wollte sie sich bei Hochwasser bis in den Park hin ausbreiten.
Die Bäume mussten wir als Schutz ansehen. Es störte mich nicht, wenn die Zweige über meinen Körper hinwegrutschten. Ich ruderte nicht mehr so schnell, holte die Ruder ein und pausierte. Die Fahrt trieb uns noch einige Meter weiter, dann kamen wir schaukelnd zum Stehen.
Julie Ritter saß am Bug und hielt den Kopf gesenkt. Ich sah trotzdem, dass sie die Augen geschlossen hielt. Auch sie brauchte jetzt eine Atempause, und ich wollte sie auch nicht stören. Ich gönnte mir die Pause auch. Besonders meinen Armen, die das Pullen nicht gewohnt waren.
Es war wirklich harmlos geworden. Wenn ich nach rechts schaute, dann glitt mein Blick durch den kleinen Park, in dem Bänke an den Wegen standen. Das Gras hatte den winterlichen bräunlichen Farbton angenommen. Hierher verirrten sich um diese nasskalte Zeit nur wenige Menschen, und der kleine Spielplatz war ebenfalls verwaist.
Nicht weit entfernt schwammen einige Enten auf dem trüben Wasser. Ich blickte auch zur anderen Seite des Kanals hin und war zufrieden, denn auch dort bewegten sich keine Gestalten, die uns hätten gefährlich werden können.
Julie blickte auf und fragte: »Hast du dir schon etwas ausgedacht? Wo sollen wir hin?«
»Du kennst dich hier aus.«
Sie überlegte. »Wenn es bei deinem Plan bleibt, dann müssten wir uns einen ruhigen Platz aussuchen.«
Im Moment war ich nicht ganz auf der Höhe. »Von welch einem Plan sprichst du?«
»Die Hypnose, John. Hattest du nicht vorgehabt, mich zu hypnotisieren, um herauszufinden, ob Maria Magdalena tatsächlich in mir wieder geboren wurde?«
»Sicher, das hatte ich!«
»Dann bin ich dafür!« Nach dieser Antwort blickte sie mich sehr ernst an.
Ich wusste, welch eine Überwindung es sie gekostet hatte, und hakte sicherheitshalber nach. »Hast du es dir auch sehr gut überlegt, Julie?«
»Das habe ich. Sag mir bitte, welche andere Möglichkeit es noch für uns gibt?«
»Im Moment sehe ich keine.«
»Genau das ist es. Wir wollen und müssen weiterkommen. Du ebenso wie ich, denn ich will Klarheit haben, so schlimm es sich auch anhört. Wir brauchen Informationen, um ihre Grabstätte mit den eventuell vorhandenen Überresten zu finden. Und das noch vor den verfluchten Templern, die wir hoffentlich abgeschüttelt haben.«
»Mal sehen.«
»Glaubst du nicht?«
»Ich will ehrlich sein, Julie. Richtig glauben kann ich nicht, weil ich sie kenne und deshalb genau weiß, dass sie so leicht nicht aufgeben werden. Sie kennen alle Tricks, und sie werden sich hier in Gent eingenistet haben. Wir müssen auch damit rechnen, dass sie Verbindungen zu den Polizeidienststellen haben. Also können wir uns keine großen Abstecher erlauben.«
»Das heißt, wir müssen ein ruhiges Versteck finden.«
»Du sagst es.«
Julie dachte nach. Sie kaute dabei auf ihrer Unterlippe. Schließlich hob sie die Schultern und sprach von einem Hotel.
»Nein, Julie.«
»He, warum nicht?«
»Das ist zu gefährlich, denn sie werden als erstes in allen Hotels nachfragen. Ich kann mir vorstellen, dass dies nicht so viel Arbeit bedeutet, weil es in Gent viel weniger Herbergen gibt als zum Beispiel in London.«
»Klar, du hast Recht.«
»Was sollen wir dann tun, Julie? Du kennst dich aus. Du lebst hier. Gibt es eine Person, der du vertrauen kannst?«
»Das sind eigentlich nur meine Eltern. Die aber wohnen zu weit weg. An der Küste und fast an der Grenze zu Frankreich.«
»Wie sieht es mit einer Freundin aus, die vertrauenswürdig ist? Wir brauchen ja nicht lange zu bleiben. Da könnten wir dann Unterschlupf finden.«
»Ja… ja…«, sagte sie. »Die Idee ist gar nicht mal schlecht. So viel ich weiß, lebt Sylvia Servais wieder allein. Sie hat sich vor knapp drei Wochen scheiden lassen.«
»Wie stehst du zu ihr?«
»Gut. Wir sind über Jahre hinweg in eine Klasse gegangen. Später haben wir uns etwas aus den Augen verloren, weil sie nach Brüssel ging, um dort eine Ausbildung zu machen. Sie ist Erzieherin und hat am
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