1253 - Angst vor dem eigenen Ich
Geistkörper geriet in den Bereich der Auflösung. Zugleich drückte er sich in die Knochen hinein und schwamm auch zittrig über sie hinweg. Die Gestalt verlor ihre Form. Der Kopf und das Gesicht flossen auseinander. Beide verwandelten sich in einen schwachen Streifen, der wie ein eisiger Nebel die Knochenbedeckte und dabei ein helles Glitzern hinterließ, dessen Funktion ich nicht begriff.
Es dauerte nur noch wenige Sekunden, dann lagen die Gebeine wieder so vor uns wie wir sie kannten.
Es gab keinen Doppelkörper der Julie Ritter mehr. Die alten Gebeine hatten ihn regelrecht aufgesaugt oder verschluckt. Er war darin integriert worden…
***
Suko ärgerte sich, weil es ihm nicht gelungen war, schneller zuzugreifen, aber es hatte keinen Sinn, sich irgendwelche Vorwürfe zu machen. Er musste die Dinge jetzt regeln und sich mit den Tatsachen abfinden.
Julie Ritter lag auf dem Boden. Sie war zwar gefallen, aber die Stollenwand hatte ihren Fall doch etwas abgestützt und deshalb auch gebremst. So war sie nicht zu hart hingefallen und hatte sich auch nicht verletzt.
Er kniete sich neben sie und begann mit seiner Untersuchung. Blut entdeckte er nicht in ihrem Gesicht. Nur in der Nähe des rechten Ohrs sah er im Licht der Lampe eine Schramme. Das war nichts Besonderes, das ließ sich verkraften.
Er drehte sie so herum, dass ihr Kopf auf seinen Oberschenkeln lag. Julies Gesicht war ohne Ausdruck. Die Haut zeigte sich so blass und auch zugleich fragil. Wie sie, so hätte auch eine Tote aussehen können. Aber sie war nicht tot, sie atmete, und die dünne Haut an ihrem Hals zuckte leicht. Die Augen waren nicht geschlossen. Der Blick hatte einen gläsernen Ausdruck bekommen und war nach außen und nach innen zugleich gerichtet. Sehr blasse Lippen, aus denen fast die gesamte Farbe verschwunden war, aber sie waren nicht geschlossen, und in der Kehle entstand plötzlich ein Laut.
Es war ein Geräusch, das Suko zunächst mit einem Krächzen verglich. Dabei blieb es nicht, denn aus diesem Krächzen entstanden Worte, die er noch nicht verstand, weil sie einfach zu leise gesprochen waren. Das änderte sich. Zwar sprach Julie nicht lauter, aber Suko beugte den Kopf so weit nach vorn, dass sein Ohr beinahe die Lippen der jungen Frau berührte.
Er hörte etwas und konnte es kaum glauben.
»Ich sehe die Gebeine. Ich bin bei ihnen. Ich bin in ihrer Nähe. Es ist so wunderbar. Ich kann alles erkennen. Sie sind aus dem Grab geholt worden, und sie liegen auch nicht in einem Sarg, sondern in einer Truhe. Dort passen sie hinein, und sogar der Kopf ist noch vorhanden. Der Schädel ist nicht zerstört…«
Sie legte eine Pause ein. Dabei veränderte sich der Ausdruck in ihrem Gesicht. Sie zog den Mund in die Breite, weil sie lächelte. Sie schien glücklich zu sein, und in ihre offenen Augen trat so etwas wie ein Strahlen.
Suko wollte ihr eine Frage stellen, aber das klappte nicht mehr, denn Julie fing wieder an zu sprechen, weil sie einfach etwas loswerden musste.
»Es ist so wunderbar. Ich fühle mich glücklich, aber ich muss noch etwas tun. Ich gehe jetzt zu ihnen. Ich will die Gebeine spüren. Ich will sie aus der Nähe fühlen. Sie sind das Wichtigste überhaupt. Ich muss zu ihnen. Darauf habe ich gewartet, ja, gewartet…«
Wieder schwieg sie, und Suko wartete ab, wann die nächsten Erklärungen kamen.
Er brauchte nicht lange zu warten, denn wenig später fing das Flüstern wieder an. »Ich habe es fast geschafft. Ich stehe in der Truhe. Ich spüre sie jetzt überdeutlich. Ich gehöre zu ihnen. Sie gehören zu mir, und es ist wie eine neue Geburt.«
Er hatte sie nach John und Godwin fragen wollen, wenn sie schon alles sah. Das ließ er jetzt bleiben.
Erging nur davon aus, dass sie Julie ebenfalls sahen.
Sie konnte Recht haben. Wahrscheinlich war es das gewesen, auf das sie all die Jahre gehofft hatte.
Ein neues und zugleich altes Leben anzufangen und fortzuführen.
Wieder zuckten ihre blassen Lippen. Diesmal dauerte es einige Sekunden, bis sie wieder sprechen konnte, und die Worte waren ebenfalls nur ein Flüstern.
»Sie nehmen mich auf. Sie haben auf mich gewartet. Ich fühle es. Sie freuen sich auf mich. Sie… sie… sie sind einfach da. Es ist so wundervoll für mich. So herrlich. Ja, ich erlebe es. Ich erlebe meine neue Geburt. Ich bin sie, und sie ist ich. Wir sind zusammen. Wir bilden die Gemeinschaft, denn wir sind das neue Alte.«
Suko hatte jedes Wort verstanden, aber er wusste nicht, was er davon halten
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