1253 - Angst vor dem eigenen Ich
nagte nur hin und wieder an ihrer Unterlippe. Es waren keine guten Gedanken, mit denen sie sich beschäftigte. Auch der Ausdruck ihrer Augen zeigte eine gewisse Furcht.
Suko versuchte, Julie aufzumuntern. »Sie werden es schon schaffen. Mach dir mal keine Sorgen.«
»Ich weiß es nicht.«
»Hast du einen besonderen Grund für deinen Pessimismus?«
»Ja und nein. Ich kann es einfach nicht glauben, dass alles so einfach ist.«
»Das wird es nicht sein, aber John und Godwin sind keine heurigen Hasen. Das solltest du wissen.«
»Das stimmt alles. Eigentlich habe ich ja auch mehr Angst meinetwegen.«
»Warum?«
Sie schaute hoch. »Das kann ich dir sagen, Suko. Ich bin doch nicht normal. Ich hatte gedacht, dass es vorbei ist, aber plötzlich sah ich meinen Doppelkörper wieder. Das… das… macht mir Angst. Ich erinnere mich noch an meine Pubertät. Da habe ich sehr stark gelitten, und ich hatte schon alles vergessen, und plötzlich passiert es wieder. Das muss doch seinen Grund haben.«
»Stress, Julie. Angst. Das Ungewohnte. Du bist aus deinem normalen Leben herausgerissen worden.«
»Wenn man so ist wie ich, dann kann man nicht von einem normalen Leben sprechen. Ich habe ja schon eines vorher gehabt, und befürchte jetzt, dass ich dafür büßen muss.«
»Das glaube ich nicht.«
»Doch, doch. Es kann sein, dass vieles zurückkehrt, wenn das passiert, was John und Godwin wollen. Ich weiß, dass die Gebeine der Maria Magdalena dort unten liegen. Da bin ich mir sogar sicher. Aber ich weiß nicht, was eintritt, wenn sie tatsächlich gefunden werden.«
»Dann werden sie sie mitbringen.«
»Du hast mich nicht richtig verstanden, Suko. Ich denke da mehr an mich. Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird. Irgendetwas muss passieren, daran glaube ich fest, und ich merke schon jetzt die ersten Anzeichen in mir.«
»Wie macht sich das bemerkbar?«
Julie ballte die Hände zu Fäusten. »Ich habe keine Ahnung. Es ist der innerliche Druck, der sich ausbreitet. Er sitzt überall. Etwas drängt sich zusammen. Ich habe das Gefühl, vor einer Explosion zu stehen. Ich… ich zerplatze und…«
»Warte es ab.«
»Nein, Suko, das kannst du so nicht sagen. Ich… ich… will nicht abwarten, aber ich muss, das weiß ich auch. Ich bin völlig von der Rolle. In meinem Innern tobt die Hölle. Das Blut steigt mir in den Kopf. Ich habe Mühe, auf der Stelle stehen zu bleiben. Ich möchte am liebsten wegrennen und kann es nicht.«
»Rechnest du damit, dass dein Doppelkörper wieder erscheint?«
»Ja, auch. Es ist einfach alles möglich, und das ist ja das Grauenvolle. Alles ist möglich, wenn mich der verdammte Strudel mal gepackt hat. Dann bin ich verloren.« Sie wurde immer nervöser und aufgeregter. Sie konnte auch nicht mehr auf der Stelle stehen bleiben, ging zur Seite - und blieb sofort wieder stehen, als wäre sie gegen ein Hindernis gelaufen.
Suko war irritiert, denn er glaubte, den Grund herausgehört zu haben.
Aus der Tiefe war ein seltsames Geräusch zu ihnen hoch geklungen. Nicht zu laut, aber auch nicht unbedingt leise. Man konnte es auch nicht zuordnen. Es war einfach da gewesen und wiederholte sich nicht.
Julie Ritter drehte sich langsam um und schaute Suko an. Sie stand zur Hälfte im Licht und zur anderen halb im Schatten, und ihr Gesicht wirkte wie eine Maske.
»Hast du was herausgefunden?«
»Nein, Suko. Aber da unten ist was gewesen.«
»Ja, ich habe es auch gehört. Ein Geräusch. Ich kann mir nur nicht vorstellen, was es gewesen ist.«
»Sie haben es gefunden«, flüsterte Julie und ging auf Suko zu, um ihn anzufassen. »Ja, sie haben es gefunden, das weiß ich genau. Sie… sie… sind am Ziel. Oder fast.«
Suko wartete einen Moment, bevor er die nächste Frage stellte. »Wenn sie fast am Ziel sind und du das merkst, kannst du auch sagen, was dort abläuft?«
»Nein, das kann ich nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich sehe auch keine Bilder. Ich habe keine Halluzinationen. Ich bin einfach leer, und trotzdem bin ich mir auf der anderen Seite sicher, dass etwas passiert.«
Sie kam näher, geriet wieder in den Lichtschein hinein, und Suko sah, dass sich ihr Gesichtsausdruck verändert hatte. Er war noch gespannter geworden und auch lauernder. Als Suko sie anfassen wollte, entzog sie sich ihm und drückte ihren Rücken wieder gegen die Stollenwand.
Auf ihrem Gesicht lag ein Schweißfilm. Sie holte durch den halb geöffneten Mund Luft und atmete auch wieder aus. Ihre Haut war bleich,
Weitere Kostenlose Bücher