1253 - Angst vor dem eigenen Ich
das Gesicht starr. Sie schaute zwar nach vorn, zugleich aber war ihr Blick nach innen gerichtet, als wollte sie sich selbst ausforschen.
Suko wusste von ihrem Doppelkörper. Den allerdings sah er nicht in der Nähe. Noch war der Stress wohl nicht groß genug, als dass sie ihn hätte produzieren können.
Sie sah etwas. Davon ging er aus. Sie schaute nach vorn. Sie musste Bilder erkennen können, die nur für sie sichtbar waren.
Suko wusste nicht, ob es gut war, wenn er sie jetzt ansprach. Er wollte sie noch für eine Weile beobachten, um dann Prioritäten zu setzen. Das Falsche konnte sie aus dem Konzept bringen.
In den nächsten Sekunden passierte nichts. Dann aber drehte sie hektisch den Kopf mal nach rechts, dann wieder nach links, als gäbe es dort irgendwelche Personen, die sie entdecken wollte. Aber Julie sprach nicht von sich, sondern von den beiden Männern im Schacht.
»Ich spüre es. Ich spüre es deutlich, Suko. Gütiger Himmel, es ist geschehen.«
»Was ist geschehen?«
»Sie haben das Grab gefunden. Ja!« brachte sie halb schreiend, halb krächzend hervor. »Sie haben tatsächlich das Grab gefunden, und sie sind sehr nahe dran.«
»Nur das Grab?«
Julie schüttelte den Kopf. »Nein, noch mehr.«
»Kannst du das sehen?«
»Ja. Und fühlen. Ich spüre es in mir. Ich sehe es immer deutlicher. Sie haben etwas gefunden, und jetzt öffnen sie es. Sie sind dran, sie sind dran!«, schrie sie und brach im nächsten Augenblick auf der Stelle zusammen. So plötzlich, dass es Suko nicht mehr gelang, sie abzufangen…
***
Ja, ich schaute es mir an, und ich sagte nichts, weil ich einfach sprachlos war. Ich fühlte mich von einer Gänsehaut eingepackt wie von einem Eispanzer, und ich achtete dabei sehr auf meine eigenen Gedanken.
Mir war klar, dass dies hier ein wichtiger Moment in meinem Leben war. Ein Höhepunkt. Ich hätte nie geglaubt, dies zu erreichen, aber nun war es Fakt.
Vor mir lagen die Gebeine der Heiligen und Hure!
Von innen war die Truhe mit Samt ausgepolstert worden, der im Laufe der Zeit kaum gelitten hatte.
Seine Farbe mochte verblichen sein, doch sie war noch immer dunkel genug, damit sich die Knochen von dem Untergrund abheben konnten.
Die Farbe war schlecht zu beschreiben. Man konnte sie als bleich und zugleich als dunkel ansehen.
Ich tippte dabei auf ein gewisses Grau, als hätte sich im Laufe der Zeit ein leichter Schmutzfilm auf die Gebeine gelegt.
Die Reste waren in dem Unterteil sorgfältig drapiert worden. Zunächst hatte man die längeren Knochen als Stützen hingelegt. Darauf lagen die kleineren und den Schluss bildete der noch vorhandene Totenschädel. Es war alles blank. Es gab weder Haut noch Stoffreste zu sehen, und mir schoss durch den Kopf, dass eine verdammt lange Zeit verstrichen war. Ich wunderte mich darüber, wie gut die Gebeine trotzdem noch erhalten waren, obwohl sie nicht so luftdicht verschlossen gewesen waren wie es bei Mumien der Fall war.
Ich begriff die Welt in diesen Augenblicken als ein kleines Wunder, das sich mir präsentierte. Dass die Gebeine nicht zu Staub verfallen waren, musste schon einen besonderen Grund haben, der möglicherweise etwas mit Magie zu tun hatte.
»Sie sind es, John. Sie sind es tatsächlich. Die Gebeine der Heiligen und Hure.«
Obwohl Godwin de Salier in meiner Nähe stand, hörte sich die Stimme so weit entfernt an. Auch er hatte Mühe gehabt, Worte hervorzubringen, ich hatte auch das Zittern nicht überhört, und als ich ihn jetzt anschaute, war sein Gesicht bleich wie frisch gekälkt. Er bemühte sich, ein Zittern zu unterdrücken, was ihm nicht völlig gelang. Es war auch normal, so abgebrüht konnte man nicht sein, als dass man eine derartige Entdeckung als normal hinnahm.
»Ja, das denke ich auch.«
»Und sie sind erhalten, John. Als wären sie bewusst für die Nachwelt aufgehoben worden. Man hat sie hergeschafft und hier versteckt. Der Abbé damals wusste genau, was er zu tun hatte, und vielleicht entspricht es sogar einer Fügung, dass ein Templer und du die Gebeine finden sollten. Verbrieft im Buch des Schicksals.«
Auf seine Art hatte er Recht. Und ich war zudem froh, dass wir die Gebeine gefunden hatten und nicht van Akkeren. So konnte ich Absalom im Nachhinein noch dankbar sein, dass er ihn geholt hatte. Aber er hatte uns den richtigen Weg gewiesen, und wir brauchten die Früchte jetzt nur zu ernten.
»Und jetzt werden wir sie an uns nehmen und ihnen einen neuen Platz geben«, sagte Godwin mit leiser Stimme.
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