1253 - Angst vor dem eigenen Ich
Selbst die Zentrale war in dieser Stunde nicht besetzt. So ruhig wie an diesem Tag hatte ich das Kloster selten erlebt. Vor der Tür blieb ich stehen und klopfte.
Julie gab mir keine Antwort. Es konnte sein, dass sie das Klopfen überhört hatte, und deshalb wiederholte ich es lauter.
Zwar erhielt ich auch jetzt keine Antwort, aber ich wollte nicht länger warten und öffnete die Tür.
Es geschah leise. Ebenso leise betrat ich das kleine Zimmer, durch dessen viereckiges Fenster das Licht der Sonne fiel.
Julie lag auf ihrem Bett. Diesmal nicht nackt, sondern völlig angezogen. Sie hatte nur ihre Schuhe ausgezogen, die verschmutzt neben dem Bett standen.
Ich sprach sie zunächst nicht an, sondern schloss leise die Tür. Unterwegs hatte ich bereits die Flasche geöffnet und einen langen Schluck getrunken. Jetzt stellte ich die Flasche auf den Tisch.
Etwa eine Körperlänge vor dem Bett blieb ich stehen. Ich wartete noch damit, Julie anzusprechen und hoffte, dass sie reagierte, weil sie mich gehört haben musste.
Oder schlief sie?
Ich lauschte auf ihre Atemzüge. Ja, sie drangen sehr ruhig an meine Ohren. Es konnte sein, dass sie eingeschlafen war. Da sie auf der Seite lag und mir den Rücken zudrehte, konnte ich es nicht genau erkennen. Einen kleinen Schritt machte ich auf das Bett zu. Dann blieb ich stehen und sprach sie an.
»Julie…«
Keine Antwort.
»Schläfst du, Julie?«
»Nein!«
Mich überraschte das Wort. »Das ist gut. Ich dachte schon, du wärst eingeschlafen. Gern hätte ich dich nicht geweckt, aber ich bin gekommen, um mit dir zu reden.«
»Warum?«
»Nun ja, du bist mir im Wagen so nachdenklich vorgekommen. Es ist auch verständlich nach dem, was du alles erlebt hast. Da habe ich mir gedacht, dass wir über die Dinge noch mal in aller Ruhe reden sollten, um unter Umständen Lösungen zu finden, die dich auf einen besseren Weg bringen. Wäre das akzeptabel für dich?«
»Ich will es nicht.«
»Nicht reden?«
»Genau.«
»Soll ich dich allein lassen?«
»Genau das sollst du, John. Lass mich allein. Geh, denn ich will keinen sehen!«
Sie hatte die letzten Worte sogar ziemlich scharf ausgesprochen, worüber ich mich wunderte, denn in dieser Form hatte sie noch nie mit mir gesprochen.
Hatte ich ihr etwas getan? Nein, daran glaubte ich nicht. Ich war mir wirklich keiner Schuld bewusst.
Wahrscheinlich hatte ich ihren Leidensdruck unterschätzt.
»Ich könnte jetzt gehen, Julie«, sagte ich mit ruhiger Stimme. »Aber ich glaube, dass es nicht gut wäre. Du weißt, dass wir den Fall praktisch von Beginn an gemeinsam erlebt haben. Wir haben ihn auch gemeinsam zu einem guten Ende gebracht, und ich denke, dass wir ihn auch zusammen nacharbeiten sollten.«
»Da gibt es nichts nachzuarbeiten. Es ist vorbei. Ich habe alles getan.«
»Ja, das ist richtig«, stimmte ich ihr zu, obwohl ich die Antwort nicht begriffen hatte.
»Ich habe mich geopfert, John.«
Ich wunderte mich. »Siehst du das so?«
»Ja.«
»Dann muss ich daraus schließen, dass du zu einem Opfer geworden bist. Oder dich so fühlst?«
»Ich bin das Opfer!«
»Gut, wenn du das sagst, dann muss ich es akzeptieren. Obwohl ich es nicht begreifen kann.«
»Das ist nicht wichtig.«
»Für dich nicht, für mich schon, denn ich lasse mich nicht so einfach wegschicken. Wir sind in den letzten Tagen Partner geworden, daran halte ich mich.«
»Aber das ist vorbei!«
»Nicht ganz. Sollen wir tatsächlich so auseinander gehen. Mit einem Das war's!«
»Ja. Ich werde hier nicht mehr lange bleiben. Ich finde meinen Weg. Ich werde mich neu orientieren müssen. Bitte, ich möchte, dass du mich jetzt allein lässt, John. Und vergiss mich. Es ist wirklich für uns das Beste.«
Gerade die letzten Worte konnte ich nicht fassen. Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen. Wie kam sie dazu, so zu reden? Da stimmte doch etwas nicht!
Mit einem Schritt hatte ich die Distanz zu ihrem Bett verkürzt. Ich stand jetzt direkt neben ihr, aber sie machte noch immer keine Anstalten, sich auf den Rücken oder auf die andere Seite zu drehen. Zudem hatte sie eine Hand angehoben und deckte damit ihre rechte Gesichtshälfte ab.
Da war etwas faul.
Ich umfasste ihre Schulter und gab dem Griff genügend Schwung, um Julie zu drehen. Sie schrie wütend auf, lag dann auf dem Rücken, und ich starrte in ihr Gesicht.
Es gehörte nicht mehr Julie Ritter, sondern einer fremden und schrecklichen Person…
***
Hätte es ein Loch in der Erde gegeben, ich glaube,
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