1255 - Böser schöner Engel
die Ärztin zurück, aber nicht allein, sondern mit Tamara, die auch der Engel genannt wurde.
Die Tür zum Nebenraum hatte sie nicht geschlossen, und so konnte sie hören, ob jemand die Wohnung betrat. Sie hatte auch der Ärztin einen Schlüssel mitgegeben, damit sie bei ihrer Rückkehr nicht erst zu klingeln brauchte.
Plötzlich hörte sie etwas!
Vergessen war Jamina, obwohl Svetlana nach wie vor am Bett sitzen blieb. Nur ihre Haltung hatte sich verändert. Sie war steifer geworden, und sie drehte jetzt den Kopf der Tür zu, um zu lauschen, ob sie sich nicht geirrt hatte.
Nein, das Gehör hatte sie nicht getäuscht. Jemand war dabei, die Wohnung zu betreten.
Blitzschnell stand sie auf. Mit zwei Schritten hatte sie die Tür erreicht und zog sie ganz auf. Soeben wurde die Wohnungstür ganz aufgezogen. Zwei Personen betraten die Wohnung, zwei Frauen.
Die eine war die Ärztin, die andere Tamara, der heilende Engel…
***
Sie hat es geschafft! Sie hat es tatsächlich geschafft!, schoss es der Mutter durch den Kopf. Sie hat den Engel geholt, und für meine Tochter wird alles wieder gut werden.
An nichts anderes konnte die Frau denken. Sie kannte Tamara nur aus dem Fernsehen, sie hatte nie ein Wort mit ihr gesprochen, und auch jetzt verschlug es ihr den Atem.
Für sie war sie so etwas wie eine Heilige. Sie war ein Wunder unter den Menschen, und vor Dankbarkeit wäre sie beinahe auf die Knie gefallen.
Die Ärztin hatte Tamara vorgehen lassen und schloss jetzt mit einer sanften Bewegung die Wohnungstür hinter sich. Gleichzeitig nickte sie Svetlana Tomkin zu, denn sie hatte die Frau in der offenen Tür stehen sehen.
»Du siehst, dass ich mein Versprechen gehalten habe. Ich denke, dass alles gut werden wird.«
Svetlana nickte. »Das wünsche ich mir so sehr. Ich habe gezittert und gebangt. Die Hoffnung wurde immer kleiner, verstehst du?«
»Keine Sorge. Du kannst aufatmen. Tamara hat versprochen, deiner Tochter zu helfen. Sie möchte nicht, dass ein so junges Kind sterben soll.«
»Danke.« Svetlana wusste nicht mehr, was sie noch sagen sollte. Sie überlegte, wie sie nun Tamara gegenüber reagieren sollte, aber auch da fiel ihr keine Lösung ein.
Die Ärztin blieb zurück und ließ Tamara vorgehen. Es war eine ganz andere Atmosphäre in diesem Zimmer geworden. Tamara hatte sie mitgebracht, und sie allein schien das Zimmer auszufüllen. Es war kaum zu fassen, und Svetlana kannte auch keine Erklärung für dieses Phänomen. So musste man sich eben fühlen, wenn man von einem Engel besucht wurde. Als nichts anderes stufte sie Tamara ein.
Über Engel war immer viel geschrieben worden. Das traf auch in diesem Fall zu, denn Svetlana erinnerte sich an die Beschreibungen, die sie gelesen hatte.
Es gab natürlich die Klischees, die ein weites Gebiet umfassten. Von der Realität, über die Kunst, bis hin zum Kitsch. Man konnte sagen, was man wollte, auch glauben, was man wollte, ob die Engel Flügel besaßen oder nicht, doch diese Person hier hatte keine Flügel, und trotzdem war sie für die Mutter nichts anderes als ein Engel, denn vom Aussehen her entsprach Tamara sogar diesem Klischee.
Auf ihrem Kopf wuchsen dichte blonde Haare. Sie waren zu Locken gedreht, sahen fast weiß aus und reichten mit ihren Enden bis zu den Schultern hinab. Das Gesicht zeigte eine etwas blasse Haut. Es war von Natur aus schön, und die Augen gaben einen herrlichen Glanz ab, der so klar wie ein Bergsee in der Gletscherregion war.
Sie brauchte keine Schminke, denn Tamara war wirklich eine natürliche Schönheit, und schöner als sie waren die Engel mit den Flügeln nie gemalt worden.
Langsam kam Tamara auf Svetlana zu. Sie ging, aber es war kaum ein Schritt zu hören. Es kam der Frau vor, als würde sie über dem Fußboden schweben.
Bekleidet war sie mit einem dunklen Mantel, der ihr bis zu den Waden reichte. Die Füße steckten in Stiefeln. Das richtige Schuhwerk für die kalte Jahreszeit.
Vom Alter her ließ sich Tamara schlecht schätzen, aber viel älter als zwanzig war sie wohl nicht. Auf ihrem Gesicht lag ein natürliches und sehr warm wirkendes Lächeln, das auch nicht verschwand, als sie leichtfüßig näher kam.
Dicht vor der Mutter blieb sie stehen. Svetlana wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, obwohl man sie anlächelte. Ihr gelang es kaum, ein Lächeln aufzusetzen. Sie fühlte sich so anders in der Gegenwart dieser Person. Es war nicht das Gleiche, ob sie Tamara auf dem Bildschirm sah oder ihr persönlich
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