126 - Hinter der Grenze
los.
»Wir werden sehen«, sagte er leise.
***
Vergangenheit, 11.03.2012
Das Schweigen war vollkommen. Nichts, aber auch gar nichts war zu hören im ehemaligen Grenzgebiet von Schottland, kein noch so kleines Geräusch. Was nur zum Teil daran lag, dass hier nichts mehr lebte. Der Sturm entfesselter Naturgewalten folgte einem eigenen Rhythmus, und diese unheimlichen Momente der Stille gehörten dazu.
Ascheflocken sanken herab, lautlos und so dicht wie Schneetreiben im tiefsten Winter. Sie fielen von einem Himmel, der nicht mehr zu existieren schien; tiefer und tiefer dem verbrannten, zerstörten Antlitz einer tödlich getroffenen Welt entgegen.
Sie erreichten es nicht. Urplötzlich kehrten die tobenden Sturmböen zurück, die hier bis vor wenigen Minuten noch gewütet hatten. Sie wirbelten Tonnen flockiger Materie wieder hoch, ebneten gerade erst entstandene Geröllhaufen ein und rissen den letzten Baum aus der schottischen Erde. Er tanzte davon wie ein welkes Blatt.
Vor dreiunddreißig Tagen hatte »Christopher-Floyd« seine interstellare Reise auf Höhe des Baikal-Sees beendet – mit Auswirkungen jenseits aller Vorstellungskraft. Der Einschlag hatte einen Großteil Russlands regelrecht pulverisiert und China gleich mit. Die Erde hatte dies mit einem Beben ungekannter Größenordnung quittiert, das den ganzen Planeten umlief und vieles zum Einsturz brachte, was Menschenhände erbaut hatten.
Seither tobte die Apokalypse, und ein Ende war nicht abzusehen. Gletscher schmolzen, Vulkane brachen aus, und immer wieder bebte die Erde. Mit der beginnenden tektonischen Plattenverschiebung riss der Boden auf.
Abgrundtiefe Krater entstanden. Die Weltmeere kochten und schäumten, Springfluten radierten ganze Küstenstriche weg, und über allem standen die Rauchpilze nuklearer Explosionen.
Nur wenige Atomkraftwerke – und schon gar nicht die russischen – hatten den Einschlag überstanden.
Angesichts Millionen verlorener Menschen schien das Schicksal eines kleinen Laboraffen eher unbedeutend, obschon es nicht weniger tragisch war.
Am Abend des 8. Februars hatten schwere Erdstöße Edinburgh erschüttert, denen auch das Ashworth-Institut nicht standhalten konnte. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich keine Menschen mehr auf dem Campus. Sie waren in die vermeintliche Sicherheit ihrer Tiefgaragen und U-Bahnstationen geflüchtet. Die Bürger von Edinburgh konnten nicht ermessen, was ein Kometeneinschlag tatsächlich bewirkt.
Sie erwarteten die verschärfte Form eines Bombenangriffs.
Snapper hatten sie in ihrer Panik vergessen. Herabstürzende Deckenteile waren für die Menschen eingesprungen und hatten – wenn auch unsanft – den Käfig des Bonobos geöffnet.
In der Nacht war die Hölle über Edinburgh hereingebrochen. Sturm, Feuer und Erdbeben wüteten in der Stadt, begleitet von unvorstellbarem Dauerlärm. Derselbe infernalische Wind, der Leichen und brennende Trümmer durch die Gegend wehte wie Papierschnipsel, erfasste auch den Bonobo.
Snapper wurde dreißig Tage lang über Stock und Stein geschleudert. Etappenweise, mehr als vierzig Meilen weit.
Dabei starb er selbstverständlich.
Immer wieder.
Irgendwann verfing sich sein Körper an einer Formation aus Fels und Geröll. Sie ragte mit vielen anderen im Grenzgebiet von Schottland auf. Als ein heftiges Beben ihre Kuppe herunterriß, wurde Snapper lebendig begraben.
Der Hohlraum war kaum größer als sein Inhalt. Es gab eine schmale Öffnung. Sie ließ die Kälte und Dunkelheit des nuklearen Winters herein. Gelegentlich, wenn der Sturm den Atem anhielt, kamen auch ein paar Ascheflocken an.
Snapper besaß keinen einzigen heilen Knochen mehr, hatte massive innere Verletzungen und war von Wunden übersät. Er spürte, dass etwas Helfendes unablässig in ihm arbeitete. Doch das machte den Schmerz nicht erträglicher, und es minderte auch nicht die Angst.
Snapper hatte das starke Verlangen, sich mit der Pfote an den Kopf zu schlagen und jammervolle Klagelaute auszustoßen, wie es seiner Art entsprach. Aber es wurde ihm nicht erlaubt. Die Nanobots in seinem Hirn unterdrückten jede Bewegung. Der Körper musste heilen. Trauer war Energieverschwendung.
***
Die Menschen im Dorf waren nicht sehr redselig. Das stellte Aruula bereits nach wenigen Gesprächen fest. Wenn man sie auf Verletzungen oder das Altern ansprach, priesen sie zwar den Hüter, erzählten jedoch kaum etwas über ihn. Fast jeder Dorfbewohner verwies sie an Teggar. Er war der Chiiftan, er sollte ihre
Weitere Kostenlose Bücher