126 - Hinter der Grenze
durch körpereigene Elektrizität mit Energie versorgt, aber im Gegensatz zur ersten Generation können die neuen Nanobots die Energie nicht verteilen, sondern sie nur an den Urstamm zurückgeben.«
McKay nickte. »Der Urstamm funktioniert wie ein Verteiler. Er sammelt Energie und gibt sie ab, wo sie benötigt wird.«
»Ganz genau.« Wingfield nahm einen Schluck Whisky. Es war erst elf Uhr morgens, aber Zeit hatte längst ihre Bedeutung verloren. »Das System funktioniert nur, solange sich die neue Generation nicht zu weit vom Urstamm entfernt. Sobald die Verbindung abreißt, werden die Nanobots schwächer, bis sie nach rund einer Woche absterben und über die Augen des Körpers ausgeschwemmt werden. Dabei vergiften sie den Körper leider so nachhaltig, dass er stirbt. Das war das Schicksal von Zehn Zwei.«
Wingfield stand auf und ging zu dem Käfig, in dem Zehn Drei einen Apfel aß. »Wahrscheinlich handelt es sich nur um einen ganz simplen Programmierungsfehler. Mit einem neuen Urstamm könnten wir das Problem beseitigen, aber dazu fehlt uns die Zeit. Die Entwicklung würde mindestens einen Monat dauern.«
»Und bis dahin hocken wir unter irgendeinem Felsen in Australien.« McKay betrachtete den Bonobo. »Natürlich hätten wir immer noch die Wahl, den Rest unseres Lebens in Gegenwart unseres behaarten Freunds zu verbringen, vorausgesetzt, er überlebt die Apokalypse.«
Wingfield nickte. »Und wenn nicht, würden wir ebenso qualvoll sterben wie Zehn Zwei. Australien ist wohl die bessere Wahl. Vielleicht kann ich da sogar meine Arbeit fortsetzen, wenn die ganze Sache vorbei ist.«
Er glaubte nicht wirklich daran, aber der Gedanke gab ihm Hoffnung.
»Lässt du den Affen einschläfern?«, fragte McKay.
»Nein. Ich habe das Pflegepersonal der anderen Institutsbereiche gebeten, sich um Zehn Drei zu kümmern, wenn ich weg bin.«
Seit Ronnies Entlassung hatte der Bonobo keinen eigenen Pfleger mehr. Wingfield hatte zwar verhindert, dass die Universität Ronnie anzeigte, aber weiter beschäftigen konnte er ihn auch nicht. Zehn Drei schien ihn mehr zu vermissen als seinen Artgenossen.
»Was aus ihm wird«, sagte Wingfield nach einem Moment, »liegt nicht in meiner Hand.«
McKay hob sein Glas. »Auf das Überleben.«
Die Gläser berührten sich klirrend. »Auf das Überleben.«
***
Ruuk saß mit angezogenen Beinen auf dem Dach seiner Hütte.
Sein Blick war über den See gerichtet, vorbei am Felsenturm und hinein in das Dorf seines Feindes. In diesen Tagen war das Wohlwollen des Hüters so unberechenbar wie die Launen einer Frau. Er wusste nicht mehr, welchen Zeichen er glauben sollte.
»Ruuk!« Mecdoof lief über den Dorfplatz und blieb vor der Hütte stehen. Er war noch keine sechzehn Jahre gewesen, als der Stamm diesen Ort fand, und sah jetzt aus wie achtzehn.
»Die Fremden sind zurück!«, rief er zum Dach hinauf. »Aber sie haben den Jagdtrupp nicht mitgebracht!«
Wieder so ein undeutbares Zeichen. Ruuk seufzte und stand auf. Das steinbeschwerte Holzdach knirschte unter seinen nackten Füßen. Seine Hütte war die einzige, die mit Holz gedeckt war, und die einzige, die zwei Stockwerke hatte. Alle im Dorf hatten sie gemeinsam gebaut. Es war ein Zeichen für das Ansehen, das Ruuk genoss.
»Möge der Hüter die Fremden verfluchen« , sagte er. Er trat an den Rand des Dachs, wo die Leiter lehnte. Auf den Balken hatte sich Moos gebildet. »Hast du den Kriegern schon Bescheid gesagt?«
»Nein, ich wollte auf deine Befehle warten.« Mecdoof war loyal, anständig und dumm. Ruuk hatte ihn gerne in seiner Nähe.
Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung über dem Wasser. Er drehte sich um und verlor auf den glitschigen Balken beinahe das Gleichgewicht. Er taumelte, fing sich dann aber wieder.
»Sieh nur, der Hüter!« Mecdoof zeigte auf den Felsturm.
»Ich glaube, er kommt zu uns.«
Tatsächlich schien der Hüter in ihre Richtung zu fliegen. Es war eine große Ehre, wenn er Menschen besuchte. Und es war möglicherweise auch ein Zeichen.
»Ruf die Krieger und die Heiligen Zwei«, befahl Ruuk. Er trat an die Leiter heran. »Sie sollen sich sofort hier versammeln. Wir –«
Sein Fuß glitt zur Seite und trat ins Leere. Seine Hand griff nach der Leiter, riss sie mit sich, während sein Körper haltlos nach vorne fiel. Der Boden und die steinerne Feuerstelle vor seiner Tür rasten ihm entgegen.
Mit einem dumpfen Knall schlug er zwischen den Steinen auf. Schmerz schoss von seinen Zehen bis in die Hüfte. Er
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