1263 - Das Wissen der Toten
sie.
Der Ball blieb weiterhin verschwunden. Das machte der jungen Zuschauerin nichts aus. Sie hatte Geduld. Irgendwann würde sie schon ihr Ziel erreicht haben.
Eine Minute verstrich, eine zweite ebenfalls, und Alexa blieb noch immer auf ihrem Stuhl sitzen.
Gespannt schaute sie auf die Spiegelfläche. Sie war überzeugt, dass auch an diesem späten Abend alles so ablaufen würde, wie sie es kannte.
Plötzlich sah sie den Ball wieder.
Er malte sich als bunter und recht verschwommener Fleck in der Spiegelmitte ab, aber es war nicht zu sehen, ob er von jemand in der Hand gehalten wurde.
Für sie war erst mal wichtig, dass sie sich auf den Ball konzentrieren konnte. Genau das machte ihr klar, dass die andere Seite - wer immer sie auch war - ihr Spiel angenommen hatte.
Alexa spürte die Aufregung. Immer wenn das bei ihr eintrat, veränderte sich ihr Gesicht. Da nahmen die Wangen eine Röte an, die an frische Weihnachtsäpfel erinnerte. Von nun an hatte Alexa nur Augen für den bunten Ball, der innerhalb des Spiegels noch immer nicht klar zu sehen war. Aber sie ging davon aus, dass sich dies ändern würde. Es war schon bei ihren Experimenten so gewesen.
Warten, fiebern und…
Ja, der Ball bewegte sich. Aber es war niemand zu sehen, der ihn hielt. Er schien in der Luft zu schweben, bewegte sich leicht nach oben, dann wieder nach unten, um schließlich auf einen imaginären Boden aufzuticken, der von außen her wirklich nicht zu sehen war.
Dann passierte es!
Es war wie immer ein kleines Wunder, denn der Ball kehrte aus dem Spiegel zurück!
Wer ihn geworfen hatte, das war nicht zu sehen, denn sie hatte keine Hände gesehen, die den Ball geworfen hatten. Aber er kehrte auf die gleiche Art und Weise zurück wie er gegen den Spiegel geworfen worden war, denn er tickte drei Mal auf dem Boden auf, bevor er sein Ziel erreichte und in den auffangbereiten Händen des Mädchens landete.
»Danke«, flüsterte sie, »danke. Es ist toll. Ich danke euch, wer immer ihr seid.«
Sie presste den bunten Ball so fest gegen ihren Körper, als wollte sie ihn nicht mehr loslassen. Ihr Gesicht war jetzt entspannter, und erst nach einer Weile ließ sie die Arme zusammen mit dem Ball sinken, um ihn wieder unter ihren Stuhl zu drücken.
Wie pflegte ein Freund ihrer Eltern, der Sänger war, immer zu sagen? Die Ouvertüre ist vorbei, jetzt geht es ans Eingemachte.
Darauf hoffte auch Alexa Jenkins.
Sie wartete weiter. Nun saß sie leicht vorgeneigt auf dem Stuhl und ließ den gesamten Spiegel nicht aus den Augen. Der Nebel war noch da, er drehte sich im Hintergrund, und aus ihm hervor schälte sich allmählich eine undeutliche graue Gestalt.
Kein Mann, keine Frau - es war ein Kind. Zumindest von der Größe her. Es kam näher und näher, aber es blieb trotzdem in einer gleichen Entfernung. Was das Kind hier erlebte, glich einer optischen Täuschung. Nur interessierte Alexa das wenig, denn viel wichtiger war der Junge, der dort erschien.
Sie wusste nicht viel über ihn, aber sie kannte sein Alter und seinen Namen.
»Hallo, Peter«, sagte sie…
***
Peter schwieg!
Er war da, aber er wirkte wie eine Figur, die man in den Spiegel hineingestellt hatte. Er bewegte sich um keinen Millimeter, und sein Blick war fest auf Alexa fixiert.
Sie machte sich seinetwegen keine Gedanken, denn das Spiel war ihr bekannt. Zu Beginn lief es immer etwas stockend ab, als müsste ein Motor erst noch warmlaufen.
Aber er war da, und nur das zählte. Sie mochte ihn sehr. Er war für sie zu einem echten Freund und Helfer geworden, und sie wusste auch, dass sie ihm sehr viel verdankte. Über ihn selbst machte sie sich keine Gedanken mehr, das hatte sie früher getan. Jetzt nahm sie ihn einfach nur hin, und das tat ihr gut.
»Fühlst du dich in Ordnung, Peter?«
Er nickte.
»Freut mich. Möchtest du den Ball zurückhaben?«
Erneut nickte er.
»Gut, dann kannst du ihn haben.« Alexa hob den Ball an und warf ihn auf den Spiegel zu. Wie schon beim ersten Mal tickte er drei Mal auf. Bevor er den Boden ein viertes Mal berühren konnte, hatte er die Fläche erreicht und prallte wieder nicht dagegen, sondern verschwand einfach darin. Für einen Moment schien er sich auflösen zu wollen, dann aber hatte ihn Peter gefangen und behielt ihn zwischen seinen Händen.
Alexa sah ihn jetzt wieder klarer, doch die Gestalt ihres seltsamen Freundes blieb ein wenig zerfasert. Seine Gesichtszüge waren ebenfalls nicht so deutlich zu erkennen. Allerdings hoben sie sich schon
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