1269 - Julie
schluckte einige Male. Sie bewegte den Kopf, um dabei aus den Fenstern zu schauen. »Zu Fuß gehen?«, flüsterte sie.
»Ja. Oder sehen Sie eine andere Möglichkeit? Das Telefon funktioniert nicht. Wir befinden uns in der zivilisierten Welt und müssen uns trotzdem vorkommen wie auf einer Insel, die von einer schweren See umgeben ist. Sorry, aber so ist das.«
»Ja, das sehe ich jetzt ein. Und Julie ist das Problem, nicht wahr?«
»Sie sagen es.«
Das Mädchen hatte zwar mitbekommen, dass über es gesprochen wurde, es hatte sich nur nicht darum gekümmert. Julie schaute einfach an uns vorbei nach draußen zum Friedhof hin, wo sich die Gräber schwach in der Dunkelheit abmalten. Die Steine standen dort wie eine finstere Drohung.
Ich wollte nicht länger warten und wandte mich direkt an das Mädchen.
»Ist dein Freund Belial noch immer bei dir?«
»Er wartet.«
»Dann willst du zu ihm?«
Sie nickte. »Ich gehe. Ich freue mich. Er will mir so viel Schönes zeigen, verstehst du?«
Das verstand ich sehr wohl, mir fehlte nur das entsprechende Begreifen.
Aber wer unter dem Bann des Lügenengels steckte, der dachte eben anders.
»Gut, Julie, ich kann dich nicht fest halten. Du bist zwar noch ein Kind, aber trotzdem alt genug, um zu wissen, was du tust oder nicht tust. Deshalb geh.«
Ich wollte, dass sie als Erste die Tür öffnete. Noch ließ sie sich Zeit, schaute mich an, lächelte sogar, und hinter der veränderten Augenfarbe las ich ein bestimmtes Wissen, mit dem ich persönlich noch nichts anfangen konnte.
Sie rückte etwas zur Seite, damit sie den inneren Türgriff erreichte. Dann öffnete sie die Wagentür, als wäre dies das Normalste von der Welt.
Julie stieg aus.
Ich zögerte noch. Hinter mir fand Sina Franklin wieder ihre Sprache zurück. »Wir können sie doch nicht so einfach gehen lassen, John. Julie läuft in ihr Unglück.«
»Bitte, sie ist nicht mehr normal. Es ist nicht mehr das Kind, das Sie kennen. Julie steht unter einem fremden Einfluss. Das stand sie schon länger, wenn Sie an die Zeichnungen denken. Der Einfluss hat sich jetzt nur verstärkt, und sie wird zu dem hingehen, zu dem sie hingehen muss. Das ist so.«
»Und was macht der Lügenengel mit ihr? Wozu wird er das Kind verleiten?«
»Ich weiß es nicht.«
»Zum Lügen, zum Töten…«
»Nein, so dürfen Sie nicht denken!« Ich hatte sehr scharf gesprochen. »Er hätte sich mit ihr nicht eine so große Mühe gegeben, hätte er genau das vorgehabt. Da steckt etwas anderes dahinter, Sina, Sie müssen mir glauben. Auch die andere Seite verfolgt ihre Pläne, und das hat sie mir verdammt oft unter Beweis gestellt.«
Die Heimleiterin atmete schwer aus. »Ich muss Ihnen glauben, John, auch wenn es mir schwer fällt.«
Es brachte nichts mehr, wenn wir im Wagen blieben und weiterhin diskutierten.
Natürlich ließ ich Julie Wilson gehen, aber ich wollte sie nicht allein laufen lassen.
Den Wagen hatte sie jetzt verlassen. Mit dem Ellbogen drückte sie die Tür zu. Bevor diese ins Schloss fallen konnte, war auch ich ausgestiegen, und Sina Franklin folgte meinem Beispiel. Über den Wagen hinweg warf ich einen Blick in ihr Gesicht. Selbst im Dunkeln war zu erkennen, dass sich dort nichts mehr abzeichnete. Es war zu einer strengen Maske geworden, und Sina zögerte noch, sich zu bewegen. Sie blickte über das Dach des Rovers hinweg auf Julie.
Das Kind bewegte sich mit kleinen Schritten. Um den Friedhof zu erreichen, musste sie um die Kühlerschnauze des Autos gehen oder hätte auch am Heck vorbei gehen können, doch sie entschied sich für den vorderen Weg.
Mich nahm sie so gut wie nicht zur Kenntnis, und als sie meine Höhe erreicht hatte, stellte ich mich ihr in den Weg.
Sie blickte zu mir hoch und fragte: »Was willst du denn?«
»Bei dir bleiben.«
»Wieso?«
»Ich möchte an deiner Seite bleiben und mit dir den Weg zum Friedhof gehen.«
»Warum?«
»Das ist ganz einfach zu erklären. Auch ich interessiere mich für deinen Freund. Ich möchte ihn sehen. Belial braucht sich doch nicht zu schämen, denke ich.«
»Du bist nicht sein Freund.«
»Das werden wir sehen.«
Julie schüttelte ihren Kopf. Wieder sah ich ihre gelben Augen. Die Wangen wirkten noch aufgeplusterter, als wären sie von innen mit Luft gefüllt worden. »Wer nicht sein Freund ist, den mag er nicht. Das kann dann nicht gut sein.«
»Ich mache den Test.« Mit einer Hand wies ich zum Friedhof hin. »Willst du ihn dort treffen?«
»Das weiß ich nicht genau.
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