1274 - Der Wolf und das Mädchen
meiner Mutter nicht antun können, und zum dritten habe ich einen Vollzeitjob, und es sieht nicht gut aus mit den Plätzen in einem Kindergarten. Es ist so gut wie unmöglich für mich, mein Kind in einem dieser Horte auf die Schnelle unterzubringen.«
»Das bezieht sich aber nur auf die staatlichen.«
»Ja, schon, doch es gibt noch die beiden anderen Argumente. Caroline soll in ihrer vertrauten Umgebung aufwachsen. Meine Mutter ist ihre Bezugsperson.«
Ich nickte vor mich hin. Es lag auf der Hand, dass Wendy Crane die besten Argumente hatte. Das war sie gewohnt, und nur so konnten Menschen überzeugt werden.
Dennoch sträubte sich in meinem Innern etwas dagegen, sie voll und ganz anzuerkennen. Ich wusste auch nicht, was es genau war, ich war einfach nicht zu überzeugen.
»Wie sieht es denn terminlich bei Ihnen aus, Mrs. Crane? Ich meine damit dieses Wochenende.«
»Da bin ich voll eingespannt. Es geht um eine TV-Sendung, bei der ich involviert bin. Ich habe gewissermaßen die Oberaufsicht. Wir haben die lange Nacht des Sommers vor uns. Menschen kommen ins Studio und berichten, was sie in den hellen Sommernächten erlebt haben. Durch Musik wird die Sendung aufgelockert. Es ist ein gutes Unterhaltungsprogramm, denke ich mir. Da muss ich dabei sein. Sonst wäre ich gern mit Ihnen gekommen, Mr. Sinclair. Ich bin keine Rabenmutter, ich stecke wirklich in der Klemme, aber wenn ich Sie in Woodstone weiß, dann bin ich schon etwas beruhigter.« Sie lächelte. »Man nennt Sie ja nicht grundlos den Geisterjäger. Ich kann mir vorstellen, dass Sie schon darauf scharf sind, dieses Phänomen aufzuklären.«
»Ja, Sie haben richtig getippt.«
»Dann werden Sie fahren?«
»Ich denke schon.«
»Und wann?«
»Morgen früh. Ich werde die Nacht in Woodstone verbringen und mir ein Gasthaus suchen…«
»Nein, nein, das brauchen Sie nicht. Das Haus meiner Mutter ist groß genug. Ich wäre noch beruhigter, wenn Sie dort übernachten könnten, Mr. Sinclair.«
»Gut, wie Sie wünschen.«
Wendy Crane lächelte und sah auch erleichtert aus. »Sie glauben gar nicht, welch einen großen Gefallen Sie mir damit tun, Mr. Sinclair. Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar.«
»Warten wir erst mal ab.«
»Ich wünsche mir ja auch, dass es anders läuft, aber da bin ich mir nicht sicher.«
Ich schaute auf meine Uhr. »Dann wäre wohl alles zwischen uns gesagt, Mrs. Crane, denke ich.«
»Ich glaube auch«, erwiderte sie mit leiser Stimme. Sie sah nicht erleichtert aus, sondern wirkte nach wie vor angespannt. Nach mir erhob sie sich hinter ihrem mit Leder bezogenen Schreibtisch und reichte mir die Hand. Ich spürte die kühle Haut an der meinen und bemerkte auch den feinen Schweißfilm. Ihr Blick war nicht mehr so klar wie noch zu Beginn unserer Unterredung. Sie wollte mich zur Tür bringen, aber das lehnte ich ab. Ich ging allein über den weichen Teppichboden, dessen hellgraue Farbe sich allem anpasste und den Möbeln ihre Wirkung nicht nahmen, die allesamt aus den Werkstätten irgendwelcher Designer stammten, deren Namen mir bestimmt kein Begriff waren.
Im Vorzimmer saß Wendy Cranes Sekretär, ein noch junger Mann im dunklen Anzug. Ein weißes Hemd und eine pinkfarbene Krawatte vervollständigten sein Outfit. Er war ein typischer Assistent, immer lächelnd, immer eloquent. Er öffnete mir die Tür und verabschiedete sich mit höflichen Worten.
Mit einem Lift fuhr ich aus der achten Etage nach unten. Die letzte Unterredung ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte mir im Laufe der Jahre eine gewisse Menschenkenntnis zugelegt. Ich kannte Menschen, die sich große Sorgen um ihre Verwandten machten, und das war auch bei Wendy Crane der Fall.
Dennoch kam mir ihr Verhalten etwas merkwürdig vor. Okay, sie hatte ihre Sorgen vorgetragen, aber ob sie so glaubwürdig waren, daran hatte ich meine Zweifel. Die Frau kam mir zu geschäftsmäßig vor. Es gab zu wenig Gefühl, aber da konnte ich mich auch täuschen, weil es der Frau nicht gelungen war, den geschäftsmäßigen Habitus abzustreifen und ihren wahren Kern zu zeigen.
Irgendetwas störte mich.
Und wie ging es weiter?
Wie schon so oft, möglicherweise.
Ich fuhr nach Woodstone, ich würde dort eine Nacht verbringen und womöglich durch das Dorf streifen, auf der Suche nach einem weißen Werwolf oder nach einer Werwölfin, denn vor Jahren hatte ich es mal mit einer weißen Wölfin zu tun gehabt, die auf den Namen Lupina hörte.
Deshalb hatte mich Wendy Crane nicht überraschen können,
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