1274 - Der Wolf und das Mädchen
falls es sich wirklich um eine Werwölfin handelte.
Als ich den Aufzug verließ, war ich davon überzeugt, dass dieser Fall, wenn er wirklich einer werden sollte, anders verlaufen würde. An dieser Denkweise trug auch eine gewisse Wendy Crane die Schuld…
***
»Grandma?«
»Ja, mein Kind.«
»Willst du nicht ins Bett?«
Gloria Crane lachte. »Nein, ich werde noch aufbleiben. Aber du solltest jetzt schlafen.«
Caroline erhob sich und blieb in ihrem Bett sitzen. »Aber es ist doch Sommer.«
»Und trotzdem dunkel.«
»Aber so heiß«, beschwerte sie sich.
»Du willst ja auch das Fenster nicht aufmachen.«
»Nein, es bleibt geschlossen.«
»Warum denn?«
Gloria verdrehte die Augen. »Du weißt doch, dass es nicht gut ist, wenn man in bestimmten Nächten das Fenster offen lässt.«
»Wegen diesem Wolf?«
»Zum Beispiel.«
»Den habe ich noch nicht gesehen.«
»Sie froh, mein Kind. Durch ihn ist schon genug Unheil passiert.«
Es entstand eine kleine Pause zwischen ihnen, bis das Mädchen wieder zu sprechen begann. »Ich habe keine Angst vor dem Wolf. Das musst du mir glauben.«
»Man sollte trotzdem vorsichtig sein, Kind. Wirklich, das Fenster muss geschlossen bleiben. Ich lasse stattdessen die Tür offen. Außerdem bin ich im Nebenzimmer.«
»Ruft Mum denn noch mal an?«
Die fünfundfünfzigjährige Frau mit den grauen Haaren drehte sich vom Fenster weg. Sie ging auf das Bett ihrer Enkelin zu, in dem Caroline zusammen mit einigen Puppen und Stofftieren lag.
»Mummy hat doch angerufen und gesagt, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen. Sie wäre auch gern gekommen, aber du weißt selbst, und das hat sie dir auch gesagt, dass sie sehr viel zu tun hat. Sie kann eben nicht weg, wann sie will. Das ist zwar manchmal schade, aber wir müssen es akzeptieren.«
»Ja, das hat sie mir auch gesagt.«
»Eben, Kind. Und damit müssen wir uns abfinden. Aber sie wird bald kommen. Am nächsten Wochenende vielleicht. Außerdem bekommen wir morgen Besuch. Deine Mutter hat von einem gewissen John Sinclair gesprochen, der nach Woodstone kommt und sich hier etwas umschauen möchte. Er wird uns beschützen. Er ist ein Spezialist, wie sie sagte. Er kennt sich gut aus, darauf können wir schon vertrauen.«
»Ist er Mummys Freund?«
Gloria Crane lachte. »Nein, das glaube ich nicht. Ich nehme an, dass er nur ein guter Bekannter ist. Sonst wäre er nicht bereit, herzukommen. Er wird auch bei uns schlafen. Wir können uns wirklich auf ihn verlassen, hat deine Mutter gesagt.«
»Ja, das ist gut.« Zufrieden legte sich die Elfjährige wieder zurück und nahm zwei ihrer Puppen in die Arme.
Gloria beugte sich über die Enkelin, küsste Caroline auf die Stirn und streichelte ihre Wangen.
»Schlaf jetzt. Es ist schon eine Stunde vor Mitternacht.«
»Kommt nicht um Mitternacht der Wolf?«
Die Frau mit den grauen Haaren rang sich ein Lächeln ab. »Bestimmt nicht zu uns.«
Carolines Augen glänzten. »Ich möchte ihn aber sehen, Grandma.«
»Bitte, wünsche dir das nicht. Denk immer daran, dass ein Wolf kein Hund ist.«
»Ja, das weiß ich. Aber die Hunde stammen doch von den Wölfen ab. Das habe ich gelernt.«
»Da hast du auch Recht. Trotzdem sind die Wölfe nicht mit Hunden zu vergleichen. So, und jetzt schlaf. Ich wünsche dir, dass du etwas Schönes träumst.«
»Danke, du auch. Aber wenn ich wach werden sollte, kann ich dann in dein Bett kommen?«
»Ja, das kannst du.«
»Toll, Grandma, toll…«
Mit einem Lächeln auf den Lippen erhob sich die Frau vom Bettrand und wandte sich der Tür zu.
Dort verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht. Sie blickte sehr ernst, denn sie fürchtete sich vor der kommenden Nacht. Es wäre ihr viel lieber gewesen, wenn dieser John Sinclair schon jetzt bei ihnen gewesen wäre, aber sie konnte ihn auch nicht herzaubern. Da musste sie schon noch warten.
Die Tür ließ sie offen, wie sie es Caroline versprochen hatte. Das alte mittelgroße Haus war innen etwas verbaut. Man hatte die Zimmer einfach zu willkürlich angelegt, denn direkt neben dem Raum der kleinen Caroline lag die Bibliothek, zumindest nannte sich das Zimmer so. Glorias verstorbener Mann hatte es zu seinen Lebzeiten eingerichtet. Er hatte Bücher gesammelt und sie in die entsprechenden Regale gestopft, aber er hatte auch zahlreiche Trophäen von seinen Jagden mitgebracht, sodass an den Wänden die Geweihe mit den Hirschköpfen ebenso hingen wie der mächtige Schädel eines Wildschweins, dessen Maul weit offen
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