1274 - Der Wolf und das Mädchen
stand. So sah es aus, als wollte sich der Schädel jeden Augenblick von der Wand lösen, um zubeißen zu können. Caroline hatte vor diesem Kopf immer Angst gehabt, aber das hatte sich in den letzten Wochen gegeben.
Von ihrem mit alten Möbeln eingerichteten Wohnzimmer aus konnte sie den Flur betreten, der an der Haustür endete. Sie blieb dort für einen Moment stehen und dachte nach. Schließlich bewegte sie ihre Hand, griff nach der Klinke und zog die Tür auf.
Vor ihr lag die Nacht!
Es war inzwischen der Sommer auch nach dem Kalender her eingetroffen, aber die Nacht empfand Gloria Crane als sehr dunkel, obwohl der Vollmond fast kreisrund am Himmel stand und mit seinem Auge alles auf der Erde unter Kontrolle hielt. Er war der Glotzer. Er sah alles. Er gab den Menschen manchmal auch ein unangenehmes Gefühl, weil sich so viele Legenden und Sagen um ihn drehten.
Er war ein Freund der Wölfe!
Gloria kannte die alten Geschichten, die sich um die Existenz der Werwölfe rankten. Sie hatte genug darüber gehört und gelesen und fühlte sich alles andere als wohl, wenn sie darüber nachdachte. Genau das musste sie einfach in ihrer Lage, denn es ging das Gerücht um, dass in den Wäldern in der Nähe ein Werwolf sein Versteck gefunden hatte.
Es hatte leider Tote gegeben, und es war kein Mörder gestellt worden. Aber man hatte einen hellen Schatten gesehen, der aussah wie ein übergroßer Hund, und sehr schnell hatten die Menschen behauptet, dass es sich hierbei um einen weißen Werwolf handelt.
Gloria konnte das alles nicht so recht nachvollziehen, denn sie hatte ihn noch nicht zu Gesicht bekommen. Trotzdem verspürte sie in den Vollmondnächten die Angst.
Genau dieses Gefühl hatte sich auch auf ihre Tochter übertragen, denn Wendy machte sich ebenfalls große Sorgen. Um diese Zeit war er wieder unterwegs, und die Angst um Mutter und Tochter war gewachsen. Nur verstand Gloria es nicht, dass sie Caroline auch weiterhin in Woodstone ließ. Sie wäre in diesem besonderen Fall in London besser aufgehoben gewesen, obwohl das Heranwachsen auf dem Land sicherlich eine besondere Qualität besaß.
Es war eine laue und leicht schwüle Nacht. Gloria hatte sich vorgenommen, noch ein wenig im Freien zu bleiben, und deshalb nahm sie auf der vor dem Haus stehenden Bank Platz. Es war ein Ort, der ihr gefiel, denn hier konnte sie ihren Gedanken nachgehen, und es herrschte auch die nötige Ruhe, die sie brauchte.
Gloria streckte die Beine aus und lupfte das lange Sommerkleid etwas an, um sich Luft zu verschaffen. Ihr Blick glitt dorthin, wo der eigentliche Ort lag und es heller war.
Sie selbst wohnte am Rand, wo fast schon der Wald begann, der hinter ihr hoch ragte wie ein dunkles Gebirge. Dazwischen gab es freie Wiesenflächen, Hügel, Hecken, sanfte Täler, Bäche, die wie Adern die Landschaft durchschnitten, mal eine schmale Brücke, hin und wieder ein einsames Gehöft und recht wenige Menschen, denn dieses Gebiet hier in Kent war ziemlich leer.
Wieder kam ihr Wendy in den Sinn. So sehr sie ihre Tochter auch mochte, aber manchmal verstand sie sie nicht. Sie war in der großen Stadt integriert, was ja nichts Schlimmes war, aber Glorias Meinung nach kümmerte sich Wendy zu wenig um ihre Tochter. Der Job ging vor. Dabei liebte sie das Kind, das glaubte ihr Gloria auch, doch zuerst kamen immer wieder die Karriere und die Arbeit.
Ihren Vater kannte Caroline nicht. Wendy hatte sich von ihm getrennt, als das Kind noch im Babyalter gewesen war. Beide waren zu verschieden gewesen. Wo sich Matthew jetzt herumtrieb, wusste Gloria nicht. Auch Wendy hatte nichts mehr von ihm gehört. Angeblich hatte er sich nach Australien abgesetzt.
Es war auch egal. Wendy kam allein zurecht, dank ihrer Mutter, die auf das Kind aufpasste und dabei versuchte, Caroline die Liebe zu geben, die sonst die Mutter gab. Im Normalfall zumindest.
Sie seufzte und verdrängte ihren letzten Gedanken, weil sie wieder nach vorn schauen wollte. Auch sah sie auf die Uhr, und die Tageswende rückte immer näher.
Das war die Zeit der Bestie!
Mitternacht, und der Vollmond am Himmel! Perfekter konnte es gar nicht sein.
Die Stille blieb. Abgesehen von einem leichten Säuseln des Windes, der den Geruch der Laub- und Nadelbäume des nahen Waldes mitbrachte.
Woodstone lag wie ausgestorben vor ihr. Es fuhr auch kein einziges Fahrzeug mehr über die schmale Straße, die sich in den sanften Hügeln verlor. Der Ort schien gar nicht existent zu sein. Er hatte etwas
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