1274 - Der Wolf und das Mädchen
genauer hinschaute, da entdeckte ich bereits den hellen Streifen auf ihrer Haut.
Ihr war das erste Fell gewachsen!
Jeder hatte von einem hellen Wolf gesprochen, und nun wurde ich Zeuge, wie sich ein Mensch in diesen verwandelt. Beziehungsweise in eine Wölfin.
Plötzlich schnellte sie hoch. Zugleich drehte sie sich herum, damit ich sie anschauen konnte, was sie wahrscheinlich auch so wollte. Nein, das waren keine normalen Augen mehr in ihrem Gesicht. An ihnen erlebte ich sehr sichtbar die Veränderung, denn sie hatten einen anderen, einen hellen Blick bekommen. So sahen sie mehr aus wie harte, geschliffene Kiesel.
Es war kein böser Blick, der mich erwischte, aber ein brutaler. Ich wusste, was mir bevorstand, denn sie konnte nicht anders, sie musste ein Opfer reißen.
Fell wuchs auch an den Armen. Es reichte hinab bis zu den Händen, deren Finger sich in lange Krallen verwandelten. Aus den Haaren wurde ein dichtes Fell, das auch aus dem eleganten Kleid hervorquoll. Sie sah jetzt aus wie das Werk eines Künstlers, das den Betrachter schocken sollte, zum größten Teil bereits Tier, denn jetzt wurde auch ihr Gesicht nicht mehr verschont.
Die Haut dort zog sich zusammen. Zugleich dehnte sie, sich an anderer Stelle auch wieder aus, sodass eine völlig neue Gesichtsform entstand. Es war nicht mehr das Gesicht eines Menschen, es verwandelte sich immer mehr in die Schnauze eines Wolfes, dessen Zähne wie Hauer wirkten, die selbst Beton zerstören konnten.
Auf dem Wolf wuchs das Fell weiter. Die Beine veränderten sich. Der Rücken krümmte sich plötzlich, und der gesamte Körper bekam eine andere Form. Er war dann nicht mehr für zwei Beine geschaffen, sondern für vier Pfoten.
Wendy fiel nach vorn.
Sie wandelte jetzt im wahrsten Sinne des Wortes auf allen vieren, hob den Kopf an, und ich rechnete auch mit einem Sprung, der allein mir galt.
Da hielt sie sich zurück.
Aber sie schaute mich an.
Ich war nicht feige und hielt dem Blick stand. Dabei sah ich in ein Gesicht, das noch nicht voll zu dem eines Wolfes geworden war, denn zwischendrin zeichneten sich noch die letzten menschlichen Züge ab. Aber sie waren von einer Qual und einer Tragik gezeichnet, die meinen im Hals steckenden Kloß noch mehr wachsen ließen.
Aus der Schnauze wehte mir ein Knurren entgegen. Das hatte mit einer menschlichen Stimme nichts mehr zu tun, so meldete sich nur ein Tier, und in diesen schrecklich langen Augenblicken war sie kein Mensch mehr.
Werwölfe sind mit geweihten Silberkugeln zu töten. Ich hätte die Beretta ziehen und ihr eine Kugel in den Kopf schießen können, aber das tat ich nicht. Ich weigerte mich, weil ich noch immer das Bild einer normalen Frau vor Augen hatte, wie sie so locker und leicht durch das Programm führte.
Ich holte das Kreuz hervor.
Die Wärme war bereits zu spüren. Sie glitt über meine Handfläche hinweg, als wollte sie mich beruhigen, aber das schaffte sie nicht. Zu viel war passiert.
Ich ging auf sie zu.
Das Knurren verstärkte sich. Wahrscheinlich wollte sie mich warnen. Davon ließ ich mich nicht abhalten.
Dann sah ich, wie ihr Körper zuckte. Sie schlug auch mit den Hinterläufen aus, und ich wusste in diesem Augenblick, was mir bevorstand. Deshalb reagierte ich schneller und warf das Kreuz gegen sie…
***
Den Sprung schaffte sie nicht mehr. Das Kreuz hatte sie dicht unter der Schnauze an der Brust getroffen. Es war in das Fell eingedrungen und hatte dort so etwas wie eine kleine Gasse geschlagen.
Zugleich musste den Körper ein wahnsinniger Schmerz erwischt haben, der alle anderen Handlungen lähmte. Sie schleuderte ihren mächtigen Schädel zurück, sie wollte noch mal Kräfte sammeln, die jedoch gab es nicht mehr, denn die Werwölfin brach nach vorn ein.
Sie fiel zu Boden. Sie schlug nicht nur auf, sie legte sich auch auf das Kreuz, und das gab ihr den Rest. Seine Magie war wahnsinnig stark. Sie half nicht immer, in diesem Fall schon, denn sie vernichtete das dämonische Tier, das bis vor kurzem noch ein Mensch gewesen war. Es war eine schreckliche Tragik, die ich zu sehen bekam, denn ich konnte mich noch immer nicht von dem Bild einer attraktiven Frau lösen.
Das gab es nicht mehr.
Stattdessen lag vor mir ein Wesen, dessen Fell allmählich dunkler wurde. Zuerst verwandelte sich die weiße Farbe in ein Grau, dann wurde aus dem Grau ein. Schwarz, das glänzte wie Kohle. Das Fell verbrannte, ohne dass ich ein Feuer sah, doch es blieb nicht dabei, denn auch der Körper nahm diese
Weitere Kostenlose Bücher