1274 - Der Wolf und das Mädchen
Märchenhaftes an sich.
Plötzlich schreckte sie hoch!
Es war da! Ein Geräusch, das auch andere Bewohner von Woodstone kannten.
Ein unheimliches, lang gezogenes Heulen, das von der Nähe der Bestie kündete…
***
Caroline Crane lag auf dem Rücken. Sie hielt die Augen offen, denn schlafen konnte sie nicht. Der Großmutter hatte sie nichts gesagt, aber sie spürte innerlich, dass diese Nacht anders verlaufen würde als sonst. Es würde etwas passieren, das sagte ihr das Gefühl.
In beiden Armen hielt sie Puppen. Sie befanden sich schon seit einigen Jahren in ihrem Besitz, und Caroline würde sie nie hergeben. Sie fühlte sich als Mutter, die Puppen waren ihre Kinder, die beschützt werden mussten.
Manchmal, wenn sie im Bett auf dem Rücken lag, dann hatte die Großmutter sie als Engel bezeichnet. Ja, sie war der kleine Engel mit den braunen lockigen Haaren. Das runde Gesicht ließ sie fast aussehen wie eine Puppe. Hinzu kamen noch die Pausbacken, deren Haut immer etwas rötlich schimmerte.
Aber Caroline sah sich selbst nicht als Engel an, allerdings war sie auch nicht so wie die anderen Kinder in ihrer Klasse. Sie gab sich nicht so schrill oder cool wie ihre Freundinnen. Caro gehörte zu denen, die im Hintergrund standen und es nicht nötig hatten, sich aufzuspielen. Die Lehrerin hatte mal gemeint, dass sie zu ernst war, doch darüber hatte das Mädchen nur lachen können. Caro fühlte sich keineswegs als Außenseiterin. Sie war eben nur anders aufgewachsen, denn die Erziehung hatte ihr die Augen für ganz andere Dinge geöffnet. Für die Natur und die Lebewesen, die dort existierten. Dass das Haus dicht am Waldrand stand, hatte ihr dabei sehr geholfen. Caroline hatte den Wald immer als einen großen Spielplatz betrachtet, der keine Technik aufwies, aber voller Geheimnisse steckte, die letztendlich viel spannender waren als das, was über den Bildschirm eines Computers lief.
Der Wald war nie gleich. So oft sie ihn betreten hatte, es war ihr immer wieder gelungen, etwas Neues zu entdecken. Etwas Besonderes. Neue Pflanzen, ein neuer Geruch, andere Tiere. Lichter und auch Schatten. Eine Welt für sich, in der sich Caro sehr wohl fühlte.
Und jetzt, als sie im Bett lag, dachte sie wieder an den Wald und daran, dass er ein Geheimnis verbarg. Oft hatte sie darüber nachgedacht, ohne zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Der Wald war einfach anders. Tief in seinem Innern versteckte sich etwas, und das war sehr grausam. So jedenfalls sagten es die anderen Menschen, die Erwachsenen, und sie wusste auch, dass es in der Vergangenheit Tote gegeben hatte. Der Mörder war nicht gefunden worden, aber die Menschen in Woodstone glaubten, dass es eine Bestie war und kein Mensch. Jemand hielt sich im Wald versteckt, der in der Nacht, wenn der Vollmond schien, sein Versteck verließ und so grausam zuschlug.
Das Mädchen stellte sich die Frage, warum so etwas passierte. Die Antwort konnte sich Caro nicht geben, denn sie wusste einfach zu wenig, und es gab auch niemand, der sie aufklärte.
Obwohl die schlimmen Dinge passiert waren, verspürte Caroline keine Angst vor dem Wald und vor dem, was in ihm hauste. Sie fand es sogar spannend, und je mehr Zeit verstrich, umso neugieriger wurde sie, das Geheimnis ergründen zu können.
Es gab eben Nächte, die anders waren.
So wie diese.
Da konnten viele Menschen keinen Schlaf finden. Da lagen sie wach im Bett, dachten nach, schauten mit offenen Äugen gegen Zimmerdecken oder Fenster oder wälzten sich unruhig in den Betten hin und her. Da war ihr vegetatives Nervensystem nicht in Ordnung, und die Unruhe hatte sich in eine Droge verwandelt.
Ähnlich erging es Caroline. Auch wenn es sich bei ihr in Grenzen hielt, aber die Unruhe konnte sie nicht wegdiskutieren. Sie war da, sie blieb und machte das Mädchen kribbelig, das jetzt seine Bettdecke zurückschlug und aufstand.
Neben dem Bett blieb Caro für einen Moment stehen. Ihr Blick war auf das Fenster gerichtet, das sehr groß war und beinahe bis zum Boden reichte. Mochte das Haus auch noch so alt sein, ihr Zimmer war hell gestrichen worden. Mit einer weißen Farbe, die einen leichten Stich ins Bläuliche besaß und dem Raum immer einen angenehmen Schimmer gab. Auch der Teppichboden war in dieser Farbe gehalten, und der recht große Raum war in zwei Bereiche unterteilt worden.
Zum einen in einen Bereich, in dem sie schlief. Zum anderen in den, in dem sie arbeitete. Hier stand der kleine Schreibtisch. Da war das Regal mit den
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