1274 - Der Wolf und das Mädchen
schüttelte den Kopf, sie rieb über ihr Gesicht und schlug mit der rechten Hand auf die Garderobenplatte. »Ich habe es nicht geschafft, John.«
»Das denke ich auch.«
Meine Antwort hatte sie nachdenklich gemacht. »Moment mal, was meinen Sie damit?«
»Dass die andere Seite stärker in Ihnen ist. Ich meine damit die dämonische.«
Für einen Augenblick erstarrten ihre Züge. »Und weiter? Was denken Sie, John?«
»Sie sind die Wölfin! Die Werwölfin…«
Wendy Crane bewegte sich nicht. Meine Feststellung hatte sie hart getroffen. Sie sagte kein einziges Wort mehr, schaute mich auch nicht an, sondern blickte nur in den Spiegel, als wäre sie in sich selbst verliebt und könnte nie genug von ihrem Anblick bekommen.
»Sie haben Recht!«
»Und es ist Ihre Nacht!«
»Ja, John, so ist das. Der verdammte Fluch hat mich getroffen. Ich bin die weiße Wölfin, und ich weiß nicht, was ich gegen diesen Fluch noch unternehmen soll. Ich habe alles versucht, aber es war zu spät. Ich bin von London aus nach Woodstone gefahren und habe mich dort ausgetobt. Da war es einsam. Da konnte ich es tun. Da gab es den Schutz der Dunkelheit. Da hat mich niemand gesehen. Ich war über mich selbst unglücklich, ich hasste mich, aber ich kam nicht dagegen an. Ich habe Familie, eine Tochter, noch eine Mutter, ich habe im Beruf Karriere gemacht, aber ich konnte den Fluch nicht loswerden.«
»Aber Sie haben es versucht, Wendy.«
»Wie denn?«
»Nun ja, Sie wandten sich an mich und…«
»Ach, hören Sie doch auf.« Danach korrigierte sie sich. »Doch, es stimmt, ich habe es versucht, und das mit allen Mitteln. Ich wollte wieder normal werden und habe es mit meiner Familie versucht. Diese Bindungen hätten mir helfen sollen. Ich war so davon überzeugt, aber ich habe mir auch eine Rückendeckung gesucht.«
»Das war ich - oder?«
»Ja.« Sie nickte. »Ich wollte dieses Experiment wagen. Ich habe mir bewusst die eigene Tochter als Opfer ausgesucht. Ich holte sie aus ihrem Bett. Wie immer hat mich Bayonne gefahren, denn er ist eingeweiht, und ihn habe ich nicht angegriffen. Er hat mich geschützt. Ich holte meine Tochter, ich brachte sie in mein Haus. Ich habe gedacht, dass ich ihr normal begegnen könnte, aber das ist mir nicht gelungen. Vor der Kellertür verwandelte ich mich wieder zurück in einen Menschen. Ich habe getobt, geschrieen, denn ich wusste jetzt, dass ich allein das Schicksal nicht bekämpfen konnte.«
»Deshalb haben Sie mich geholt?«
»Ja.«
»Das verstehe ich nicht so recht.«
Sie musste lachen und sagte danach: »Es kann Masochismus sein, der mit der Vernichtung endet, was weiß ich. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass Sie mich schon in der Nacht stellen würden. Ich wollte es einfach darauf ankommen lassen. Sie aber sind erst am nächsten Tag eingetroffen, und da war ich bereits wieder in London. Ich hatte ja meine Sendung. Sie kann ich nicht ausfallen lassen, denn ich bin für sie verantwortlich. Das habe ich immer so gesehen.«
»Was wäre geschehen, wenn ich Sie erlöst hätte?«
»Dann wäre es mir egal gewesen. Die Sendung läuft noch. Ich habe mich bereits verabschiedet. Die Künstler ziehen das Finale allein durch. Da brauchen sie mich nicht mehr. Ich weiß, dass meine Zeit jetzt kommt, John. Die Familienbande sind einfach zu schwach, der Fluch ist mächtiger, das schwöre ich Ihnen.«
Sie hatte sich in den letzten Minuten wieder etwas erholt. Ihr Gesicht zeigte einen entspannteren Ausdruck, aber in den Augen las ich noch immer die Furcht.
»Sie haben von einem Fluch gesprochen, Wendy.«
»Das stimmt.«
»Wie ist es dazu gekommen? Man lebt doch nicht vor sich hin und wird einfach so verflucht.«
»Das ist schon richtig. Auch bei mir. Ich habe mich immer schon damit beschäftigt. Ich habe die Werwölfe geliebt. Ich habe Wege gesucht, um sie zu finden, denn ich wusste, dass es sie gibt. Man musste nur die Augen offen halten.«
»Haben Sie Erfolg gehabt?«
»Ja. Zusammen mit meinem Mann Matthew. Auch er war eingeweiht. Er stand mir zur Seite. Caroline war schon auf der Welt. Wir sind oft nach Woodstone gefahren und haben die Einsamkeit ausgenutzt. Und dort habe ich eine Werwölfin getroffen.«
Ich horchte auf. »Wer war es?«
»Eine wunderschöne Frau. Sie hatte davon erfahren, für was ich mich interessiere.«
»Darf ich raten?«
»Ja - bitte.«
»War es Morgana Layton?«
Plötzlich konnte sie lächeln. »Ich wusste, dass Sie sich auskennen, John, denn es ist tatsächlich Morgana
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