1275 - Der Totenkopf-Sammler
daran, mit seiner Frau zu telefonieren und sich ablenken zu lassen. Wenn er ihr allerdings von seinem Besucher erzählte, würde sie ihm wieder Vorwürfe machen, wie sie das immer tat, wenn er von seinem Job erzählte, gegen den sie große Vorbehalte gehabt hatte, weil er ihrer Meinung nach dafür einfach zu alt war.
Günther kümmerte sich nicht darum und dachte daran, dass es noch einen Tröster gab, zu dem er griff, wenn er ziemlich down war. In der Schublade seines Schreibtisches lag immer eine Notration.
Sie befand sich in der hellen Flasche und bestand aus einem Schnaps, den es nur in einer kleinen Fabrik zu kaufen gab, nicht im Laden. Es war ein scharfes Gebräu aus Kräutern, das ihn bis hinein in die Fußspitzen durchwärmte, wenn er erst mal einen kräftigen Schluck davon getrunken hatte.
Das tat er auch jetzt!
Er trank aus der Flasche und hatte für einen Moment das Gefühl, Galle zu trinken, so bitter schmeckte das Zeug. Tapfer schluckte er es hinunter, und er spürte, wie sich die Wärme in seinem Körper ausbreitete und das andere Gefühl vertrieb.
Er drehte den Verschluss zu, legte die Flasche zurück und rollte mit seinem Stuhl ein Stück nach hinten, um die Beine hoch und auf den Schreibtisch legen zu können.
So reagierte er immer, wenn er entspannt war. Nur in dieser Nacht wollte ihm das nicht gelingen.
Die Aufregung blieb trotz des beruhigenden Schlucks. Als er auf die Uhr blickte, glaubte er, sich versehen zu haben.
Er erinnerte sich daran, wann der unheimliche Besucher gekommen war, und wenig später hatte er die Leichenkammer betreten. Er musste sich schon ungefähr eine Viertelstunde dort aufhalten. Ungewöhnlich für einen Besuch.
Günther kannte sich aus. Wenn Menschen kamen und ihre Angehörigen sehen wollten, kehrten sie zumeist sehr schnell wieder zurück. Fünfzehn Minuten oder länger blieb kaum jemand. Fünf Minuten war die höchste Zeit, die er erlebt hatte. Die meisten Besucher waren froh, diese Umgebung wieder verlassen zu können. Egal, ob da nun Verwandte lagen oder nicht. Der Tod hatte eben seine eigenen Gesetze.
Was tat man so lange.
Günther dachte nach. Er war auch nicht von gestern. Er las Zeitungen, er hatte Berichte gehört, und er war von seinem Chef angehalten worden, die Augen offen zu halten, was er auch tat.
Es gab immer wieder Menschen, die großes Interesse an Leichen hatten. Darüber hatte er auch gelesen. In den Nachrichten wurde manchmal davon berichtet. Was diese Perversen mit den Leichen anstellten, darüber wollte er nicht nachdenken.
War dieser Typ so einer, der…
Er wollte nicht weiterdenken. Günther wollte auch nicht nach dem Äußeren urteilen, denn niemand kann sich malen, aber so ganz aus seinem Gedächtnis konnte er die Vorstellung nicht streichen.
Plötzlich spürte er den Druck im Magen. Stärker als vor dem getrunkenen Schnaps, und er stemmte beide Hände auf den Schreibtisch, um sich aufzustemmen. Sein Herz klopfte heftig. Schweiß trat auf seine Stirn.
Gebückt blieb er stehen und drehte den Kopf der schmalen Tür zu. Er hatte noch keinen dieser Perverslinge erlebt. So wusste er auch nicht, ob sie sich bei ihren Taten still verhielten oder Geräusche verursachten.
Günther gehörte zu den Menschen, die auch einen Job wie diesen pflichtgetreu ausführten. Und so nahm er sich vor, sich endlich Gewissheit zu verschaffen.
Er ging auf die Tür zu. Wie ein Dieb schlich er näher.
An der Tür blieb er geduckt stehen. Er lauschte, aber es war nichts zu hören. In dem Leichenraum blieb es still.
Was tat der Typ? Betete er? Nein, das konnte sich Günther beim besten Willen nicht vorstellen.
Es war so einfach. Er brauchte nur die Klinke nach unten zu drücken und die Tür aufzuziehen.
Das tat er auch.
Günther schaltete dabei seine Gedanken völlig aus. Er wollte sich nicht ablenken lassen, aber er musste das Richtige tun, damit er am Morgen wieder in den Spiegel schauen konnte.
Deshalb öffnete er die Tür.
Ja, das Licht brannte, auch wenn es heruntergedimmt war. Er schaute in den Gang hinein, an dessen linker Seite sich die Boxen befanden, in denen sonst die Särge standen.
Bis auf eine waren alle leer.
Und vor dieser einen stand der Besucher!
Im ersten Augenblick wusste Günther nicht, was dessen Haltung zu bedeuten hatte. Er sah wohl, dass der Zugang zur Box geöffnet worden war. Halb hineingedrängt hatte sich der Besucher, und er hatte sich auch gebückt.
Über die Leiche hinweg…
Aber das war nicht alles. Ein heller
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